Bittere Selbstironie im Flachmann

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Stephan Wackwitz erkundet in seinem Familienroman "Ein unsichtbares Land".

Auschwitz, Namibia, der Nationalsozialismus und die 68er Generation. Dazwischen liegen Welten und nicht nur ein weiter Weg: Im Vergleich dazu sind der Nord- und der Südpol Nachbarn.

Zwischen den Polen Auschwitz und 68er Generation ist die Spurensuche nach der Familiengeschichte von Stephan Wackwitz angesiedelt. Kein Wunder, wenn diese Chronik "Ein unsichtbares Land" heißt. Erinnerung ist eine Bewegungsform in Zeit und Raum, wie der Lektor, Essayist und Erzähler im Positiven mit seiner Rekonstruktion von persönlicher und allgemeiner - sprich deutscher und europäischer - Geschichte vorzeigt.

Zunächst Verweigerung

Am Beginn stand jedoch die Verweigerung der Erinnerung seiner Großmutter. "Sie haben nie darüber gesprochen, dass der Schauplatz ihrer Kindheit und der Ort des Jahrhundertverbrechens einen längeren Spaziergang und ein knappes Jahrzehnt voneinander entfernt sind." Oder aber das "steinern gewahrte Schweigen der Familienmänner im Kreis ihrer Frauen, Kinder und Enkel."

Am Beginn stand eine Nachricht, dass bei der Durchforstung der Nachlässe von Kriegsgefangenen die Kamera aufgefunden wurde, mit der der Großvater die Überfahrt von Südafrika nach Deutschland im Jahr 1939 festgehalten hatte, der Film war zerstört, das Interesse geweckt, andere Bilder aufzuspüren.

Der Großvater Andreas Wackwitz, evangelischer Pfarrer im galizischen Grenzgebiet zwischen Polen, Österreich-Ungarn und Oberschlesien, hat den Ersten Weltkrieg in den Schützengräben mitgemacht, während des Kapp-Putsches mitgekämpft, bis er dann 1933 nach Südafrika ausgewandert ist, um dort als Pfarrer seinen Dienst zu tun. Kurz vor Kriegsbeginn versucht er mit seiner Familie, auf dem Dampfer "Adolf Woermann" in die Heimat zurückzufahren. Das Schiff wird von einem englischen Kreuzer aufgebracht und versenkt, die Passagiere kommen als Kriegsgefangene nach Kanada und erreichen Deutschland erst nach sechs Jahren.

Seine Erlebnisse und Reflexionen hat der alte Wackwitz auf tausenden Seiten festgehalten, ein Versuch, Ordnung zu schaffen, denn zumindest das Papier ist geduldig, wenn es schon nicht der aufmüpfige Enkel ist, der immer dagegen redet. Bevor es zum Protest nicht nur des Enkels kommt, regiert jedoch das Schweigen. Die Geschichte der Altvorderen als Provokation, als Wunde, die sich nie schließen sollte und konnte. Diese Aussichtslosigkeit war auch eine der Katalysatoren für individuellen Terror, für die Rote Armee Fraktion von Baader-Meinhof. Auf das Schweigen und den Terror folgte die Beschäftigung, und von diesem Impuls angetrieben betritt Stephan Wackwitz nicht nur das fremde Großvaterland, sei dies nun in Polen, in Namibia, mit den verzweifelten Hoffnungen nach dem Ersten Weltkrieg, der Verbitterung der Kriegsgefangenschaft und des Nicht-Verstanden-Werdens durch eine Nachkriegsgesellschaft, sondern auch die unmittelbare persönliche Zeitgeschichte, die als "Zeitenverwirrung" umschrieben wird, wofür als literarisches Symbol nur Hamlet Geltung haben kann, wie der Autor meint. "Damals hat für uns die theatralische Identifikation mit den Opfern begonnen, das schamanistische Spiel im Spiel, durch das wir uns in Juden und Kommunisten verwandeln wollte. Damals muss unsere Wut entstanden sein, unser historisches Traumleben, unser politisches Schlafwandeln."

Wackwitz sucht nach verschiedenen Wegen in das unsichtbare Land, er greift nach dem philosophischen Kompass, macht Rast und Pause mit Assoziation und Sprachgefühl, führt im Flachmann auch eine bittere Selbstironie mit sich und er entdeckt und gesteht sich selbst ein, dass sich hinter seinem Rücken das Leben des Großvaters und das eigene Leben miteinander verständigt hatten.

Abgespeckter Proviant

Es ist gut, wenn die Zeiten zu Ende sind, wo nur die Jungen die Wahrheit gepachtet zu haben scheinen. Dieser um die absolute Wahrheit abgespeckte Proviant reicht, um ein großes unsichtbares Land zu erkunden, ein Land das zwischen Auschwitz, Namibia, dem Nationalsozialismus und der 68er Generation liegt.

Ein unsichtbares Land

Familienroman von Stephan Wackwitz

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003

286 Seiten, geb., e 20,50

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