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Blick auf die Weltausstellung

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MONSIEUR COOLS' gleicht mit seinen geröteten Apfelbacken und seinen lustigen graublauen Augen einer jener flämischen Bauerntypen, die der Dichter Felix Timmermans darzustellen liebte. Aber dieser handfeste, lebensstrotzende Mann pflegt nicht mit festem Schritt über Aecker zu schreiten, sondern balanciert, ja tanzt geradezu mit einer seinem schweren Körper widersprechenden Grazie auf den höchr sten Strebebalken des 110 Meter hohen Wahrzeichens der Brüsseler Weltausstellung herum. Penn der 27jährige gehört zu jener aus vierzig Mann bestehenden Spezialgruppe, die seit einigen Wochen bei Tag und bei Nacht daran arbeiten, daß der „Clou“ der „Expo 58“, das „Atomium“, rechtzeitig zur Eröffnung fertig werde. Es hat geheißen, daß nicht weniger als neun Arbeiter bei der Errichtung dieser hundert-fünfzigmilliardenfach vergrößerten Nachbildung eines Metallkristalls abgestürzt seien. „Unsinn!“ lacht Monsieur Cools, als er wieder zu mir heruntergeklettert ist. „Wir haben nicht einen einzigen größeren Arbeitsunfall gehabt.“ Und der eigentliche geistige Vater des „Atomiums“, Andre Waterkeyn, fügt hinzu: „Ich habe mir die Baugeschichte des Eiffelturms angesehen. Auch damals 'hieß es zu Unrecht, die kühne iKristimktiow.Jiabe das Opfer zahlreicher Menschenleben gefordert. Auch damals unkte man, der Bau sei zu gewagt, um einem Unwetter standzuhalten, auch damals... ach, die Menschen sind sich eben seit 1900 im Grunde doch gleich geblieben.“

WATERKEYN, ein kluger, gut aussehender Ingenieur von genau vierzig Jahren, hat mir als erstem ausführlich die Geschichte seines Lieblings- und Sorgenkindes „Atomium“ erzählt. „Ich hatte als Wirtschaftsdirektor der Firma Fabrimetall im Jahre 1954 die Aufgabe, zu entscheiden, welchen Typ eines Metallbaues wir als Wahrzeichen der Ausstellung aufstellen sollten. Besonders in Betracht gezogen wurde damals ein 250 Meter hoher Stahlmast, der als eine Art kopfstehender Eiffelturm auf seiner Spitze ruhen sollte. Nun — die Welt unserer Tage steht ja wirklich köpf, aber mir erschien dieses effekt-hascherische Symbol doch als ein wenig zu frivol. Da — als ich in später Stunde zu Hause über den verschiedenen Entwürfen saß, tauchte vor mir eine Zeichnung aus einem meiner Schulbücher auf: ein Kristallgitter aus Streben und Kugeln bestehend, jede Kugel ein Atom... das, das war es: die Versinnbildlichung unseres, des Atomzeitalters. Im Augenblick, als mir der Einfall kam, ahnte ich auch schon, daß er verwirklicht werden würde!“

Noch heute spürt man in den Worten dieses ruhigen, beherrschten Mannes etwas von der Erregung jener Entdeckernacht, in der er kaum zum Schlafen kam. Schon am nächsten Tag konstruierte er ein Modell seines „Atomiums“. Es bestand aus den Stricknadeln seiner Frau und den Gummibällen seiner vier Kinder. Dann begannen die ' Arbeiten mit dem Rechenschieber und lange Besprechungen mit dem Schwager Andre Pollack, der ein großes Architekturbüro in Brüssel leitet. Es gilt, Widerstände zu überwinden. Eine Gruppe, die einen 700 Meter hohen Betonturm errichten will, „schießt aus Eifersucht quer“, Skeptiker behaupten, die vorgeschlagene Struktur sei unsicher, andere bezeichnen sie als unerträglich häßlich. Aber Versuche an einem Modell, das im Windtunnel künstlichen Orkanen ausgesetzt wird, widerlegen solche Bedenken. Waterkeyns „neunköpfiges Ungeheuer“, wie es die Spötter nennen, wird als offizielles Ausstellungsprojekt angenommen.

DOCH NUN BEGINNEN DIE SORGEN ERST RICHTIG. Das Terrain, auf dem die Weltausstellung stattfinden soll, ist nachgiebig, ja an manchen Stellen geradezu sumpfig. Um dem Bau des „Atomiums“ die sicheren Fundamente zu geben, müssen Pfeiler tief in den Boden gesenkt werden. Und plötzlich erscheint auf dem schlammigen Gelände schreckensbleich ein Abgesandter der Bauleitung. Ohne es zu bemerken, haben die Erbauer des „Atomiums“ ihre Pfeiler durch das Fernleitungsnetz hindurchgetrieben, das die belgische Hauptstadt mit Antwerpen, der wichtigsten Hafenstadt des Landes, verbindet.

Sonst noch Schwierigkeiten? „Oh, nur Kleinigkeiten“, meint Monsieur Waterkeyn mit einem leicht bitteren Lächeln. „Zum Beispiel der Streik von anderthalb Monaten, der uns zwar gerrreki-sam mit vielen anderen Firmen traf, aber besonders beunruhigte, da wir ja zu einem ganz bestimmten Tag fertig sein müssen. Und die Kostenfrage. Unser .Atomium' hat mehr gekostet, als veranschlagt worden war. Wie hätte es anders sein können?! Es war ja der Prototyp einer ganz neuen Art von Bau. Wir hatten keine Zeit, langsam Schritt nach Schritt zu machen. Das Eröffnungsdatum ,17. April 1958' hing über uns wie ein Damoklesschwert. Das bedeutete Ueberstunden und auch Ueberbezahlung. Denn nur so konnten wir mitten in der Hochkonjunktur die notwendigen Arbeiter bekommen. Aber das, was der Bau zuviel gekostet hat, wird in den zehn Jahren, die das ,Atomium' nach Ausstellungsschluß mindestens noch stehen bleiben soll, bestimmt wieder hereingeholt werden.“

NUN IST ES ALSO SOWEIT, und die neun silbernen Riesenkugeln des „Atomiums“, bekleidet mit einer blitzenden dünnen Aluminiumhülle, leuchten weit über die Brüsseler Ebene. Schon kann man in 60 Sekunden vom Eingang mit dem Aufzug hinauf in die oberste Kuppel fahren und von dort einen großartigen Ausblick über das ganze Ausstellungsgelände haben. Wie erstaunlich genau zeigt sich der Charakter der einzelnen Nationen im Stil'ihrer Gebäude, aber auch schon in der Art, wie sie an ihren Bau herangingen. Da fällt natürlich zuerst der einem riesigen undurchsichtigen Eiswürfel gleichende Bau der Russen auf, die es auch hier wieder einmal verstanden haben, durch Andeutungen und Geheimnistuerei im Mittelpunkt aller Vermutungen und Gerüchte zu stehen. Behauptete man nicht sogar, sie würden ihren nächsten Sputnik am Eröffnungstag der „Expo 58“ abschießen und in einer besonderen Abteilung die zentrale Beobachtungszentrale dieses neuen Raumversuches einrichten? Der runde Bau der Amerikaner, einem zum Stillstand gekommenen Karussell gleichend, wird von ihnen selbst am liebsten mit dem Kolosseum verglichen, jenem Prachtbau der imperialen Epoche des römischen Reiches. Aber statt der Gladiatoren werden hier „Quizmeister“ walten und ein modernes Elektronengehirn zum Wettkampf über Jahreszahlen herausfordern. Fast wohltuend sticht dagegen der kleine Pavillon des Fürstentums Liechtenstein ab, in dessen Inneren gezeigt werden soll, daß „ein kleines Land die Individualität des Menschen am besten zu pflegen verstehe, die Staatseingriffe auf ein Minimum herabsetzen und seinen Bewohnern die größte Freiheit gewähren könne“.

Die deutschen Ausstellungsgebäude, rechtzeitig und als erste fertig geworden — eine vielleicht, nicht unbeabsichtigte Demonstration deutscher Lieferungspünktlichkeit — sind hell, solid, bewußt bescheiden. „Keine Experimente!“ hat hier die Devise gelautet. Ganz entgegengesetzt der tollkühne, ja geradezu abenteuerliche Ba't der Franzosen, von weitem wie eine Berg-ün*. Talbahn aussehend, aus der Nähe durch seinen Schwung begeisternd. Wenn er einmal fertig ist — was allerdings erst einige Wochen nach Ausstellungsbeginn zu erwarten sein soll —, wird dieser Beitrag Frankreichs vermutlich als das phantasievollste Gebäude der „Expo“ angesehen werden. Schon jetzt heißt es, daß die ganz neuartige Benutzung der Stahlstrukturen, wie die Franzosen sie demonstrieren, der Baukunst während der nächsten zwanzig Jahre den Weg weisen wird.

ABER WICHTIGER NOCH als die architektonischen Anregungen und Leistungen könnten die Antriebe sein, die von dem Generalthema der Ausstellung ausgehen, das bekanntlich lautet: „Bilanz für eine menschlichere Welt.“ Monsieur Lambillotte, Herausgeber der Zeitschrift „Synthese“, dem diese geistige Wegweisung der Ausstellung vor allem zugeschrieben werden muß, sagte mir: „Wir möchten vor allen Dingen die Möglichkeiten einer neuen Vermenschlichung dieser uns scheinbar über den Kopf gewachsenen, uns ihren Rhythmus aufzwingenden technischen Welt aufzeigen. Denn das ist ja der Widerspruch unserer Epoche: Wir besitzen zwar die Schlüssel zur Kenntnis der Welt und des Menschen, aber es sieht so aus, als seien wir unfähig, uns ihrer richtig zu bedienen.“

Ist es nicht erstaunlich und zugleich hoffnungsvoll, daß beim Baubeginn der Ausstellung folgende Worte an die Leiter der einzelnen Länder und Gruppen, an die Architekten und Innendekorateure gerichtet wurden: „Das Streben nach Menschlichkeit ist das Hauptthema der Ausstellung. Ohne diese tiefe Sinngebung, dieses Glaubensbekenntnis zur Zukunft des Menschen wäre die Expo 1958 nur eine Gebäudeansammlung ohne Seele. Der Wert der menschlichen Erkenntnisse interessiert die meisten nur vom Standpunkt der praktischen Vorteile aus, die sie uns verschaffen. Wir aber müssen klarmachen, daß die Forschungsbemühungen in ihrer Vielfalt und Vielzahl vor allem der geistigen Erhöhung des Menschen dienen sollen. Die Geschichte verlangt heute, daß wir endlich über den Sinn des menschlichen Fortschrittes nachdenken.

DIE WELTAUSSTELLUNG SOLL ALSO trotz ihrer „Attraktionen“, trotz des Feuerwerks von verwirklichten Erfindungen und der Fülle technischer Sensationen ihre Besucher nicht nur aufregen und unterhalten, sondern ihn auch zur „Meditation“ zwingen. Sie will — und hier sind die Amerikaner mit besonderem Mut vorangegangen — nicht nur die Licht- sondern gerade auch die Schattenseiten unserer Zivilisation zeigen. Eine solche selbstkritische Haltung ist neu. Sie hat es auf den früheren Weltausstellungen noch nie gegeben. Damals in Paris, in New York wollte jede ausstellende Nation vor allem mit ihren Höchstleistungen paradieren und die anderen beeindrucken. Im Jahre 1958 ist man weniger naiv-stolz. Fast alle wissen, wie gefährdet wir trotz unserer großen wissenschaftlichen und technischen Leistungen sind. Ganz offen steht da in dem Büchlein über das Grundthema der Ausstellung das Wort: „angiosse“ (Angst). Aber es ist eine Angst, die uns nicht terrorisieren, sondern vor Schlimmerem bewahren soll, solange noch Zeit ist.

Monsieur Cools, der schwindelfreie Monteur, der wie eine winzige Spinne hoch oben zwischen den Streben des „Atomiums“ herumklettert, hat zwar, als ich ihn zuerst darnach fragte, behauptet, er kenne keine Angst. Dann allerdings gab er zu, daß ihn sogar in der Nacht manchmal ganz plötzlich ein Gefühl der Unsicherheit befalle, daß plötzlich die Gefahren des vergangenen Tages vor ihm aufstiegen und er sich frage, ob er ihnen wohl am nächsten Morgen wieder gegenübertreten könnte. Mit dem Tag allerdings vergißt er diese Sorgen oder tut wenigstens so. Er geht zu seiner Arbeit, die ihm viel Geld einträgt. Denn der Bau muß ja fertig werden, und das Lächeln wird über die Angst siegen.

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