6721460-1965_14_09.jpg
Digital In Arbeit

BLICK AUF JOSEF WEINHEBER

Werbung
Werbung
Werbung

Meine Kindheit spielte im Pülkäutal, abseits der großen Stadt, darin die bewegenden Ereignisse ausgeheckt oder gesammelt werden, abseits der Länder Salzburg, Tirol, Steiermark, Kärnten, diesen klingenden, bilddichten Namen, abseits auch landeigener örtlichkeiten, denen der Raum oder der Mensch Nimbus und Geltung schafft. Das Pulkautal hat fruchtbare Böden und fleißige Leute, aber der gestaltenreiche Weltgang, der mich lockte, erreichte es nicht. Wehmütig eifernd nahm ich in der Schule wahr, daß all die gebietenden Stimmen und Kräfte nicht unserem Wein-Korn-Land galten. Zudem konnte ich mich in das Größere, Gültige bloß hinausdenken. Gab es doch weder Geld für die Bahn noch Autos.

Einer meiner Mitschüler wanderte mit seinen Geschwistern im Sommer zur Großmutter nach Patzmannsdorf und erzählte nach jeder Heimkehr unerhörte Dinge über die Weite der Felder, Weinhügel und Ortschaften, die er durchmessen hatte. Volle acht Stunden — hin und zurück — war er auf bloßen Bubenfüßen unterwegs gewesen! Auf seinem Weg kam er durch Harras, das eigentlich Groß-Harras hieß, und wo der Friedhof zwischen den Menschenhäusern und dem Haus Gottes liegen soll. Wer aus der Kirchentür trat, stand vor Grabkreuzen. Unglaublich das! Der Loibl-Franz war in meiner persönlichen Geschichte der erste Weltreisende, der erste Entdecker.

Jahre später fuhr ich mit dem Rad durch Groß-Harras und ah die gleichen Haustore wie in Hadres, Tore mit Sonnen,Halbsonnen, Viertelsonnen, Rhomben und Rosetten und anderen meisterlichen Ornamenten. Ich sah kronige Straßenbirnbäume, auf Abflugdächern ziervolle Hauswurzfächer, schwerschrittige Bauern, schöngeschirrte starke Rosse und in den Höfen stattliche milchweiße Säulen. Und glücklich war ich in der Erwiderung des eigenen Heimatbiildes und im planenden Gleichmaß des Landes, dem die meisten meiner Vorväter und Vormütter entstammen.

Bald nahm mich das Wort gefangen, und gern wäre ich einem begegnet, der es vermocht hätte, unser Wein-Korn-Gäu zu einer Landschaft der Dichtung zu erheben. Aber sosehr ich auch durch Kalender und Bücher forschte, ich fand keinen.

Unversehens las ich von einem Lyriker, der den überraschend gegenständlichen, heimatzeichnenden Namen Weinheber führte, und ich vermutete ein Pseudonym. Dieser Dichter hatte ein Buch, „Wien wörtlich“, geschrieben, darin den „groben Gruß Götzens“ zwischen die Zeilen gesetzt und war darum von einem sittenstrengen, mit Sehschlitzen kämpfenden Kritiker eifervoll gerügt worden. Der mehr im Heiteren denn wahrhaftig Herausgeforderte parierte überlegen geistvoll in einem Aufsatz „An den Anonymus von Wien!“.

Weinheber? Zweifellos, das klang nach Lößbrüchen, Rebstockzeilen, Weizenglanz und Kirschbäumen, das roch nach Preßhausdunkel, Kellersand und Rösseratem, und das perlte hinter dem Schleierblitz des Glases bordorot oder sommersonnig.

Aber auch dieser lyrische Turm stand am breiten Wasser der österreichischen Mitte und nicht an den schmalen Gerinnen draußen im früchtigen Land, und bald las ich die untäuschbare wienerische Weise:

Du im Traum

geh nur zu!

Rauschebaum,

Lindenruh...

Illesheim zwischen Würzburg und Nürnberg. Ich übte Flugmelden und stand hinter einem graumorschen Holzzaun. Draußen lag ein leuchtender Acker: silbernes Seidengeflock, samtenes Marienglas, Löwenzahnlcugel neben Löwenzahnkugel. Immer wieder senkte ich das scharfe Zeiss-Glas aus der friedvollen Luft in das feierliche Unkraut. Unerschöpflich zogen die hellen Samenhüllen vorüber. Schimmernde Bälle, unzählige Globen, makellos gewölbt der kleinste wie der größte. Jede Speiche war genau gesetzt, voll feinstem Schnitt und weiser Stärke, magisches Sonnenlicht in den zarten Pelzen, silbriges, goldenes, sanftrotes, violettes. Jeder Flaum ein winziger Märchenstern, flirrender, lachender Maienrauhreif. Endlos war dieser Wolkenschaum, dieses feierlich farbige Gelocke, jede Kugel durchsichtig, unirdisch und doch raumtief mit eingemalten blauen Schatten.

Nächsten Tag brachte die Post Weinhebers „Kammermusik“. Zwischen Geschütz, Pfählen und Teerplatten nicht eingestimmt, blätterte ich wahllos. Plötzlich hielt ich ihn:

LÖWENZAHN

Deine Samenkugel ist das schönste Wolkenbild der Welt!

O hätten dich die Höhen geboren!

Fern den Menschen und zuerst im Jahre!

Es weinten über dich die Seelenvollen,

Und die Kärrner zählten deine tausend Blütenblätter, Sohn des Volks!“

Welch festliche Vollendung meiner bedeutungslosen Flugwache1!

Indessen hatte der Krieg auch die Heimathimmel verdüstert. Aus dem Weinland ins Weinland unterwegs, von Pulkau nach Gumpoldskirchen, und nach zwei Soldatenjahren las ich im Melker Berghof nahe der Deutschordenskirche, Sorgen und Befürchtungen scheuchend, Prosa und Verse von Rosegger, Stelzhamer, Weiland, Glawischnigg, Reuter, Thoma und — Weinheber. Unter die Weiland-Gedichte mengte ich heimlich eigene und beobachtete das Spiel der Gesichter, ob wohl das Schwanken der Güte auffalle.

Als ich wieder einmal ins Verwalterhaus kam, gab es eine fast bestürzende Neuigkeit. Weinheber war dagewesen, und die Frau Verwalter hatte gesprächsweise verlauten lassen, daß auch ein anderer — Dichter, der allerdings Mundart schreibe, Gast im Hause sei. Auf die Frage nach dem Namen überreichte man das Gästebuch und Weinheber las: Zu unsrer stolzn Freud red ma wia d Bauernleut. Haltn eahn Sprach in Ehrn, weil ma da Hoamat ghörn.

„Der Schiferl ist unser Freund“, meinte die Hausfrau.

„Aber völlig unbekannt“, sagte der Unbestechliche.

Es wurde ein sehr vergnügter Abend, Weinheber schmeckte der Benediktinerwein ausgezeichnet, und nur ungern ließ er sich an den letzten Zug gemahnen. Frau und Freunde standen schon am Hoftojr, er aber hielt noch in der Küchentür, und seine Bekenntnisse zum Verwalterhaus gipfelten in die elementare Eröffnung: „Herr Verwalter, Sö habn in Wein, und i bi a Lyriker, wia zwa müaßn zusammhaltn2.“

Man bat mich um die Besorgung der Bände „O Mensch, gib acht“ und „Wien wörtlich“, und da sie im Buchhandel nicht mehr erhältlich waren, schrieb ich nach Kirchstetten an ihren Autor und erhielt ein unbezahlbares Wortphoto:

Geehrter Herr Schiferl!

Ihren Auftrag könnte ich voll effektuieren. Aber wenn Sie glauben, per Nachnahme könnte dies geschehen, irren Sie. Ich verlange für jeden Band zwei Flaschen Gumpoldskirch-ner, und zwar, durch verschiedene Vorfälle gewitzigt, so, daß ich zuerst den Wein habe. Sodann müssen Sie sich auf meine bewährte kaufmännische Anständigkeit verlassen. Anders ist mit mir ein Geschäft nicht mehr zu machen.

Achtungsvoll Josef Weinheber

Wochen darnach stand an jeder Badener Anschlagtafel: Josef Weinheber liest im Stadtsaal.

Der festliche Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt. In Logen und vorderen Reihen aß, was in Bürgerhäusern, Kuranstalten, Kasernen und Lazaretten Rang und Freude an Versen hatte. Weinheber begann mit Gedankentyrik. Das erste Gedicht „Übersetzen“ deutete diese literarische Tätigkeit als ein Übersetzen von einem Geistesufer ans andere und stellte wie alle Verse merkliche Anforderungen. Zudem konnte sich Weinheber nicht freilesen, doch das Publikum folgte in Zurückhaltung, Respekt und musterhafter Disziplin. Nach der Pause, in der ein angesehenes Quartett gespielt hatte, schien der Dichter unsicher zum Lesetisch zu kommen, und seine Stimme wurde häufig launenhaft leise, so daß eine junge Verehrerin in ernsthafter Sorge mehrmals von der Galerie rief: „Bitte, lauter!“ Weinheber, der aus „Wien wörtlich“ las, antwortete dementsprechend: „Ja, was wollts denn vom mir? ös Badner habts euch da einen patzn Saal herbaut, und i soll den allan ausredn? I bin ja ka Theater! Und außerdem: i bi fufzg Jahr alt! Die Kraft, die Jugend, alles vorbei!“

Der Saal erstarrte.

Des Dichters Stimme wurde schwerer und schwerer, seine Bewegungen wurden fahrig, und im Schlußgedicht „Beim Heurigen“ unterbrach er nach Beginn der letzten Strophe mitten im Vers und rief als Revanche grimmig zur Galerie hinauf:

„Und jetzt soll dö gescheite Fräuln da obm sehgn, wie i schrein konn“, und mit massigem Arm stoßweise gestikulierend, bot er ein derbes Fiaker-Furioso:

„— dem homs dö Sunn weggstohln, den soll dar Teufel holn, des is da letzti Rest von Ooottakring!“ Hiezu schwang er zur endgültigen Bekräftigung die Faust hoch. Wie von einem Spuk verstört, verließen wir schweigend Saal und Haus.

Der Dichter war vor der Lesung zum Wein geladen worden,' und in der Pause hatte er, die Hemmungen fühlend, mit einem üngemessenen Schluck die letzten' Energien mit Gewalt mobilisieren wollen.

Beklommen sah ich das Dämmereißende in Sauter, in Stelzhamer, in Villon, wozu soeben neue Zerstörung eingebrochen war, und die düstere Landschaft wollte sich nicht erhellen. — Plötzlich hörte ich „Kammermusik“: die „Geige', die „Bratsche“, das „Cello“ und die volksfröhliche „Klarinette“. Ringsum erblühte der zauberhafte Illeshekner Löwenzahnacker, und durch mein Ohr läuteten wieder die Verse:

„Deine Samenkugel ist das schönste Wolkenbitd der Welt.“ Welch gegensätzliche Leitkräfte waren da unterwegs! — Dämon und Barde. Hoch und hell erstrahlte über Irrlicht und Absturz der odenhafte „Hymnus an die deutsche Sprache“.

Bevor ich wieder einrückte, war mir ein kostbares Geschenk beschieden: Richard Eybner las im Figaro-Saal am Josefsplatz aus „Wien wörtlich“, und ich erlebte ein Höchstmaß von Gestaltungskunst. Eybner las nicht, was Weinheber geschrieben hatte, nein, er saß leibhaftig als „Präsidialist“ leicht näselnd und nonchalant am Telephon, er saß — für eine ganze Tischgesellschaft — streitbar, weltselig und „auf-drahrerisch“ „beim Heurigen“, er warb in der „Werbung“ unverwechselbar volksecht um die „Fräuln Marie“, jeder Zoll ein „Haberer“, und in „Waaßt? Net? Verstehst?“ vollzog er vollends die magische Verwandlung seines Erscheinungsbildes. Der schlanke Mann schien plötzlich beleibt zu sein, über seine Augen legten sich die Schleier des Angeheiterten, seine Wange röteten sich, das ganze Gesicht wurde „dostig“ und begann leicht fiebrig zu glänzen, Körperhaltung und Mienenspiel zerflossen in Raunzerei, Wurstigkeit und Wohlbehagen. Wo ist ein zweiter Wortmeister, der dem Sprechmeister solch einen prächtigen Figurenschatz auf den Tisch stellt? Wo ist ein zweiter Dichter, der auf hochdeutsch und munddeutsch gleich unerreicht seine Lyra spielt?

Und wo ist die zweite Weltstadt, die ihre Originaltypen und ihre Stimmungsbilder derart unübertroffen gedeutet und abgezeichnet findet? Der Krieg war zu Ende, Weinheber hatte ihn nicht überlebt.

Nach dem ersten Weltkrieg gab es viele Sensationen. Diesmal gab es nur eine: das schreckliche Elend. Nach einem Jahrzehnt etwa wurde — wenigstens für mich — eine andere gemeldet: Josef Weinheber, die zweisprachige lyrische Zunge Wiens, stammt über seine Ahnen aus Groß-Harras! — Ich las den Satz ein zweites, ein drittes Mal, blätterte zur Titelseite zurück — ja, es war die „Furche“, die das schrieb, und nicht etwa irgendein Blatt, und es war Lois Stawars, der es schrieb, ein Forscher, der neue Daten erst dann lüftete, wenn er sie auf etlichen Goldwaagen nachgewogen hat. Diesmal freilich fehlt ihm auf das Endgewicht etwa ein zehntel Lot. Aber dieser winzige Schlußstein liegt wohl griffbereit im Archiv, und wenn man es öffnet, wird man ihn bloß nehmen und an seine Stelle zu setzen brauchen. Dann wird die Forschung Lois Stawars' auch formell vollendet und den Literaturhistorikern ein sicheres Faktum in der Hand sein.

Als ich dies bedachte, erinnerte ich mich, daß ich schon Jahre vorher im Edmund-Finke-Buch, „Josef Weinheber, Mensch und Werk3“, gelesen hatte, des Dichters Ahnenlinie weise nach Großharras. Ich war aber mißtrauisch geblieben. Hatte man doch bloß nach einer Mistelbach^nahen Weinbenannte, Christian nach dem Großvater und Harraser nach dessen Heimat4. Allerdings fehlten Weinheber die urkundlichen Belege.

Erst Lois Stawars also hatte durch seine emsigen Forschungen in Wien, Mödling, Laa und Großharras die Bahn endgültig aufgebrochen und sorgfältig abgesteckt.

Einmal las ich Wilhelm Szabos erschütternd-feierliche Klage über Weinhebers Tribut an die Trümpfe der Zeit. Diese Klage stimmte nachdenklich.

Vor zwei Jahren setzten wir Suso Waldeck, der unser Kaplan war, am Hadreser Pfarrhof eine Gedenktafel, und die Waldeck-Gesellschaft sandte mir Schriften über ihren Dichter. Waldeck, von dem frühe Gedichte in Hadres bewahrt wurden und der hier sein Altersdomizil wählen wollte, entlassen und verschwiegen, ins Mühlviertel gehen, dessen Einschichthöfe für sein letztes Ausgesetztsein symbolisch wurden. Nur einer besuchte ihn, Josef Weinheber, der dann auch für ein würdiges Grabdenkmal des Freundes sorgen wollte. Wie verstand er sich doch souverän und gut mit dem gläubigen Priester, er, „der Heide“ und reklamierte Paladin eines Reiches, das den Pfarrhöfen nicht gut gesinnt war! Am Tag der Gedenktafelenthüllung wurde Hadres ein Marktwappen verliehen, und ich erhielt dazu einen Brief aus Washington. Ein Freund gratulierte zur Rangerhöhung und zur Art, wie wir sie begingen. Dieser Freund, Beamter der Weltbank, ist der Kirchstettner Versehrte Kriegsflieger Doktor Franz ollerer, der Weinheber in jenen verwirrten Tagen im Garten des Dichterhauses begraben hatte.

So trafen denn nicht mehr ganz selten größere Bezüge auch am Pulkaubach ein, und meine Knabensehnsucht nach dem Begegnen mit schaffenden Werten wurde allmählich erfüllt.

Frohen Herzen danke ich Lois Stawars für die Beurkundung der Weinheber-Herkunft, die neuerlich besagt, wieviel geistige Ursaat im Wein-Korn-Land schlummert. Auch die Namen Josefine Wessely, Ferdinand Waldmüller, Hugo von Hofmannsthal und andere ruhen mit den Wurzeln im „Viertel unter dem Manhart“.

1) Nach Lois Schiferl, „Verschollenes Jahr“, Europäischer Verlag, Wien.

2) Nach ökonomierat Josef Bück, umpoldsklrchen.

3) Edmund Pinke, „Josef Weinheber, Der Mensch und da Werk“, Salzburg 1850.

4) Friedrich Bacher, „Die BrunnenstMbe“, Kremayr Scheriau, Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung