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Edith Whartons Novelle "Der Prüfstein" beleuchtet die menschliche Erbärmlichkeit.

Was verdirbt den Charakter mehr: Armut oder Reichtum? Edith Wharton wurde 1862 in eine reiche New Yorker Familie hineingeboren. 28 Jahre verheiratet, lebte sie nach ihrer Scheidung bis zu ihrem Tod (1937) in Frankreich. Derzeit erleben ihre Romane auch im Deutschen eine Renaissance. Jüngster Beweis: Die vorzügliche Übersetzung ihrer Novelle "The Touchstone" von Manfred Allié. "Der Prüfstein" hat auf den ersten Blick ein abseitiges Thema: Da liest ein Mann in einer Zeitung, dass ein Literaturprofessor für die Biografie einer berühmten verstorbenen Autorin Briefe sucht, die sie möglicherweise an ihre (wenigen) Freunde geschrieben habe.

Der Mann besitzt Hunderte Briefe. Er hatte die Leidenschaft der Verstorbenen für ihn nie erwidern können. Er ist zu arm, um die Frau, die er begehrt, zu heiraten. Plötzlich erkennt er das Kapital, das er in Form der Briefe in Händen hält. Ohne seine Identität preiszugeben, lässt er sie als Buch veröffentlichen, wird dabei wohlhabend und kann seine Angebetete heiraten. Ein Skandal folgt: Die feine New Yorker Gesellschaft ist einerseits empört über die Indiskretion des Unbekannten, andererseits von der großen Liebe der verstorbenen Autorin fasziniert. Die Handlung spitzt sich in einem dramatischen Konflikt zwischen dem "Verräter" und seiner Frau zu.

Was weiß sie, nachdem sie das Buch gelesen hat? Ahnt sie, dass ihr Mann der Adressat der Briefe war? Wie wird sie reagieren? "Unsere Seele ist wie ein Dschungel, in dem wir die paar Morgen, auf denen wir leben, gerodet haben, und von unseren Nachbarn kennen wir nur das, was wir an den gemeinsamen Grenzen sehen." Die Angst des Mannes vor der Reaktion seiner Frau kippt schließlich in Gleichgültigkeit: "Die letzten Dämme seines Willens brachen unter dem Ansturm der moralischen Verrohung."

Die amerikanische Autorin bohrt immer tiefer, bis sie jenes Problem freilegt, das jeden Menschen angeht: Wie kann/soll sich jemand verhalten, der eine wirklich schlechte Tat begangen hat? Gibt es für ihn überhaupt eine Chance, das Fortzeugende dieser Tat aufzuhalten? Die Antwort der Edith Wharton ist überraschend.

Aktuell an der Novelle wirkt neben der moralischen Frage aber auch die unaufdringliche Gesellschaftskritik. Was ist das für eine Gesellschaft (gemeint ist die reiche amerikanische Oberschicht), die genug Mittel hat, alles zu tun, was Freude machen könnte, aber unfähig ist, Freude zu empfinden und sich statt dessen in endlosem Tratsch ergeht. Liebesunfähig kann ein Reicher genauso sein wie ein Armer, der das Beste verschachert, was ihm je im Leben geschah, nämlich die Liebe.

Die Pulitzer-Preisträgerin des Jahres 1921, in ihrer realistisch-ironischen, nuancenreichen Sprache eng verwandt mit ihrem großen Landsmann Henry James, erhellt blitzartig Abgründe der menschlichen Erbärmlichkeit und Niedertracht - ein zeitloses Thema...

Der Prüfstein

Novelle von Edith Wharton. Deutsch von Manfred Allié

Dörlemann Verlag, Zürich 2004

180 Seiten, geb.,e 17,30

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