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Blick in die Welt von Gestern

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Die letzten Theaterpremieren entsprachen durchaus, wenn auch nicht besonders gewichtig, dem Motto der heurigen Wiener Festwochen: Anbruch unseres Jahrhunderts — Kunst und Kultur nach der Jahrhundertwende. In der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ von Egon Friedeil heißt es über Arthur Schnitzler, der Dichter habe in seinen Werken eine Art Topographie der österreichischen Seelenverfassung jener Epoche um 1900 geliefert, aus der man sich einst genauer und verläßlicher Aufschluß holen werde als aus dicken Fachbüchern. Gegen den Vorwurf, in seinen Stücken und Erzählungen das ewige Lied von Liebe, Spiel und Tod zu wiederholen, hat sich Schnitzler selbst in einem melancholischen Versspruch verteidigt: Auch darin sei alle Weisheit und aller Sinn enthalten. Zunächst mögen die im Theater der Josefstadt aufgeführten drei Einakter wie „altmodische“, unserem Lebensgefühl doch schon fernstehende Privatangelegenheiten anmuten. Aber näher besehen, sind auch darin Beziehungen und Situationen dramatisiert, in denen „alles“ enthalten ist: Schnittpunkte des Schicksals und des Lebens. Diese präzisen Einakter — eigentlich Schlußszenen von vorangegangenen Tragödien oder halben Tragikomödien — könnten einen neuen Zugang in Schnitzlers Bezirke eröffnen.

In „Lebendigen Stunden“ enthüllt der grantige alte Hofrat dem jungen Dichter, daß dessen verstorbene Mutter sich selbst geopfert habe, weil ihre lange Krankheit dem Schaffen des Jungen hinderlich gewesen sein könnte. Vielleicht war er gar kein wirklicher Dichter, aber er glaubte an sich, und seine Mutter hatte an ihn geglaubt, nur der alte Hofrat räsoniert: „Was ist denn deine ganze Schreiberei, und wenn du das größte Genie bist, was ist sie denn gegen eine so lebendige Stunde... ?“ in der die verehrte Frau da gewesen ist, geredet oder geschwiegen, aber gelebt, gelebt hat. „Lebendige Stunden?“ fragt der Junge zurück. „Sie leben doch nicht länger als der letzte, der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, über ihre Zeit hinaus“, und berührt damit, ergreifend verhalten, den Sinn des künstlerischen Schaffens. In der „Gefährtin“ glaubt ein Universitätsprofessor seine eben verstorbene Frau, die um 20 Jahre jünger war als er und von der er sich innerlich längst abgewendet hatte, gegen die oberflächliche Eigensucht ihres junr gen Geliebten verteidigen zu müssen. Dabei erfährt er, daß er die einst so geliebte Frau mit ganz falschen Augen gesehen hat; daß sie in Wahrheit niemals seine Gefährtin gewesen, sondern immer nur selbstsüchtig dem leichten Genuß des Lebens ergeben war. Auch in der Komödie „Komtesse Mizzi oder Der Familientag“ gibt es eine „Demaskie-rung“, nur gelangen die verheimlichten Seitensprünge des Grafen Arpad und seiner von ihm so verkannten Tochter, der in Wirklichkeit recht lebenskundigen und -lustigen Komtesse, auf eher gemütliche, ironisch-heitere Weise zutage, Alle drei Einakter aber erweisen Schnitzlers faszinierende Fähigkeit, das Reale in der Schwebe zu halten und die Wirklichkeit zu desillusionieren.

Der einfühlenden Regie Heinrich Schnitzlers standen nicht durchweg entsprechende Darsteller zur Verfügung. Egon Jordan war der räsonierende Hofrat im ersten und der etwas zu bobby-

hafte, ewig verliebte Graf im dritten Einakter. Michael Heitau bot sowohl als junger Dichter wie in der Episode als Geliebter der verstorbenen Professorsgattin sehr ansprechende Leistungen. Seinen Gegenpart, den Professor, spielte eindringlich Hans Holt, der auch den Fürsten und Bewerber der Komtesse angenehm unaufdringlich gab. Gut Vilma Degischer als seltsam zwielichtige Enthüllerin in der „Gefährtin“ und ganz ausgezeichnet als lebenskluge Komtesse Mizsi; vielleicht etwas zu gewöhnlich und daher weniger gut Helly Servi als das Grafenverhältnis Lolo. Helmut Lorin wirkte als plötzlich aufgetauchter erwachsener Sohn gar zu selbstgefällig. Zu rühmen Bühnenbilder und Kostüme von Gottfried Neumann-Spallart. Lebhafter Beifall des Publikums.

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Auch das selten aufgeführte Stück „Tabula rasa“ von Carl Sternheim, 1916 geschrieben, zielt im Rahmen seiner Chronik „aus dem bürgerlichen Heldenleben“ auf die Demaskierung der neuen heraufgekommenen Macht um die Jahrhundertwende und im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg; der Macht des deutschen Bürgers, der gerade dabei war, sich selbstzufrieden als Maß aller Dinge zu erkennen, jener sich damals stetig verbreiternden Schicht, der immer mehr auch „von unten“ zustrebten. Hier ist es Wilhelm Ständer, Herrenmenschproletarier, Glasbläser mit geheimen großbürgerlichen Allüren, der radikale und gemäßigte Hohlköpfe gegeneinander hetzt und alle gegen alle ausspielt. Am Ende macht er „reinen Tisch“, um von kapitalistischen Aktiengewinnen und einer listig aufgewerteten Pension in „absoluter Freiheit“ von jedem Gewissen, jeder Verantwortung und Not zu leben.

Sternheims Figuren stammen nicht aus der Gesellschaftskritik, sondern aus der Sphäre des absoluten, des reinen Theaters. Die Gesellschaft ist ihm gleichgültig, er hält überhaupt nichts von ihr. Wenn nun der kluge Beitrag (Friedrich Abendroth) im Programmheft des Kleinen Theaters der Josefstadt im Konzerthaus erklärt, „daß es wirklich anders werden muß mit dem Menschen“ und daß Sternheims „Tabula rasa“ an die „ganz unmittelbare Schwelle zu unserer Zukunft“ herangeführt habe, dann steht dieser angeblichen Zukunftsträchtigkeit unüberwindbar Sternheims Stil entgegen. Seine Figuren sind nicht Menschen, sondern 'Marionetten, die eine expressiv stilisierte, seltsam verkürzte Sprache sprechen. Das Publikum, das an diesem Stenogrammpathos Vergnügen fände, gibt es in Wien kaum, und Regisseur und Schauspieler haben es zudem schwer, karikierte Typen, die zugleich detailiert individuelle Züge tragen, hinzustellen. Abgesehen davon, daß Sternheims künstliche Staccatosprache zugleich fatal natürlich klingen kann. Was aber kaum gelingen will, auch in der Kleinen Josefstadt nicht.

Doch agierten unter der intelligenten Regie von Friedrich Kallina vor allen Guido Wieland in der Hauptrolle, Grell Elb und Elfriede Ramhapp als Magd und Mündel, Adolf Beinl als leitartikelnder Journalist, Franz Messner als brüllender Radikanlinski, Martin Costa (ausgezeichnet in einer Episode) als wissend-unwissender Arzt und alle anderen nach besten Kräften. Es war trotz allem ein sehr interessanter Theaterabend.

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