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Blick vom Belvedere

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Berühmt ist der Blick auf Wien vom Belvedere aus; wie oft wurde er gemalt, besungen, gefilmt; geschaut. Da liegt die Stadt in ihren hellen Lichtern, in der Mitte der hohe Dom, im Hintergrund die Berge, von denen die Befreier herunterstiegen, Anno 1683. Wendet der Besucher im Marmorsaal, in dem die Unterzeichnung des Staatsvertrages stattfinden soll, den Blick nach der anderen Seite, dann sieht ei dem Südbahnhof und Ostbahnhof entgegen. Unweit der Flanken des Schlosses laufen die beiden großen Ausfallstraßen, dem Süden, Italien, Triest, dem Balkan, und dem Südosten, Ungarn, zu.

Das Schloß des Prinzen Eugenio von Savoyen, eibaut als ein sichtbares Zeichen der Befreiung Wiens von großer Angst und Sorge; nach der Abwehr der Türken konnte es gewagt werden, außerhalb der Stadtmauern, auf freier Höhe, auf freiem Felde, das herrliche Schloß zu erbauen: seine Fenster, seine Portale sind offene Horizonte: einladend, weit, offen, ruhig strahlend.

Der Staatsvertrag für Oesterreich wird, wenn er unterzeichnet wird, die erste Wegmarke einer neuen Situation für Europa sein. Diese Tatsache bedeutet für Oesterreich eine ernste Verpflichtung. Die Verpflichtung zu einer konstruktiven, ja zu einer schöpferischen Außenpolitik, die mutig, kühn, gelassen, nüchtern und geduldig, unverdrossen durch Mißverständnisse von Freund und Feind, die im Staatsvertrag von Oesterreich verlangte Neutralität als das konstruktive Element einer neuen Integration Europas begreift. Zu deutsch: eines Wachsens aller wirklich lebendigen, aller wirklich freiheitlichen und freiheitsliebenden Elemente in Europa, das heute auf eine neue Erschließung seines mächtigen Potentials wartet. Das Geschwätz vom Untergang des Abendlandes, aber auch die Redner und Beamten dieses und jenes offiziösen Optimismus und Pessimismus in dieser und jener Staatskanzlei und Presse übersahen geflissentlich das eigentliche Problem, die große Herz- und Kernfrage Europas, dieser in Oesterreichs Existenz lebenden Wirklichkeit: es geht, heute wie gestern, in Europa nicht um Auf- und Untergänge, sondern um ein anderes: es geht darum, ob die reichen Schätze dieses Kontinents flüssig, liquid gemacht werden, und von wem sie flüssig gemacht werden. Der Oesterreicher ist der Ansicht, daß diese Verflüssigung, zum Nutzen der Welt und aller ihrer Hemisphären, zu allererst von Europäern selbst geleistet werden muß. Und daß sie nie durch Kurzschlußlösungen, durch einseitige Schnappschüsse und niemals durch Manager der Angst, die mit ihrer Schreckpistole die unerhört reiche Vielfältigkeit und Gegensätzlichkeit der europäischen Elemente in diesen oder jenen Kader und Kahn zusammenzwingen wollen, geschaffen werden kann.

Oesterreichs Bundeskanzler sagt in einer Presseerklärung über Oesterreichs Neutralität: diese Neutralität wird kein passiver Zustand sein, sondern sie wird einen eminent konstruktiven Charakter besitzen. „Sie soll den Willen bedeuten, durch eine aktive Politik eine Entwicklung des Ausgleichs und der friedlichen Regelung der noch offenen Fragen in Mitteleuropa zu fördern. Die österreichische Außenpolitik kehrt damit das erste Mal seit 1918 wieder zu einer eigenen Konzeption zurück. Die christlich-abendländische Grundhaltung und die geistige Zugehörigkeit zur westlichen Welt ist eine Selbstverständlichkeit, welche erst die Voraussetzung zu einer konstruktiven Neutralitätspolitik schafft. Oesterreich tauscht die stete Gefahr einer Teilung des Landes für eine von den Großmächten voraussichtlich garantierte Integrität und Neutralität ein.“

Neutralität als ein Vakuum, als ein Leerraum, als eine Enthaltung würde bedeuten: eine stete Versuchung für alle Anrainer, in diesen Leerraum einzufallen, einzuströmen. Neutralität kann, auf Grund der Erfahrungen Oesterreichs in, an, und mit Europa für Oesterreich nur bedeuten: die Verpflichtung zu eigener Arbeit und Leistung, zur Erschließung der reichen wirtschaftlichen, kulturellen, künstlerischen und geistigen Kräfte, die in unserem Lande gegeben, aber oft wenig gehegt und erschlossen sind. Oesterreich kann das sehr große Potential seines Landes, seiner Erden und Wasser, seiner Oele, Ströme, Wälder, seiner Erze und Ebenen, seiner Menschen erschließen, wenn es wagt, als erstes Land Mitteleuropas sich aus der Angst der Zeit zu erheben. Oesterreich hat ein gutes Recht und eine gute Chance dazu, denn es ist jenes Land, das zu allererst den Schock verspürte, bereits im 19. Jahrhundert, das Erbeben und Erdbeben, die zum Einsturz der alteuropäischen Ordnungswelt und der Reiche Alteuropas führten. Oesterreichs Dichtung und Geistigkeit, zwischen Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal, Trakl, Kafka, Broch und Musil, ist der große seelische Registraturapparat, das Netzantennensystem, das die Brüche und Einstürze Alteuropas mit den feinsten Geräten aufgezeichnet hat, über die ein waches Auge, eine ergriffene Vernunft und ein ergriffenes Herz verfügen. Alle Aengste Alteuropas wurden, in mehr als hundert Jahren, hier und zumal in Wien, registriert. In diesem Wien, in dem am Vorabend des ersten Weltkrieges Hitler, Mussolini, Lenin, Stalin, John Foster Dulles und viele andere signifikante Wegmacher und Wegvernichter einer nun zu Ende gehenden Spätzeit geweilt haben. Es hätte also guten Sinn, wenn in dem Land und der Stadt, die in ihrem Schicksal und Gesicht die Schocks und Aengste Alteuropas früher als andere verspürten und auszutragen begannen, nunmehr die Zeit der Angst durch das Wagnis des Vertrauens, der Freude, des Friedens und der Gabe überwunden würde.

Konkret bedeutet dies für Oesterreich, als Realisierung seiner Neutralität, wiederholen wir es: Oesterreich kann nicht leben als Museum und nicht als Kaserne. Neutralität kann deshalb für Oesterreich nur bedeuten: Erschließung der freien und freiheitlichen Kräfte Oesterreichs, die ein wesentlicher Bestandteil der Substanz der freien Welt sind, in jene Räume hinein, die mit Oesterreich im Süden und Südosten Jahrhunderte verbunden waren und verbunden sind.

Am Vorabend der letzten Staatsvertragsverhandlungen hat der tschechische Ministerpräsident erklärt: die Tschechoslowakei werde bestrebt sein, nach dem Abschluß des Staatsvertrages ihre kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Oesterreich zu intensivieren. Wer mit dem Burgtheater in Agram war, weiß, wie stark und wie lebendig die kulturelle und geistige innere Beziehung dieses Raumes zu Oesterreich ist. vermittelt hier durch das Medium der „Burg“, des ersten Staatstheaters deutscher Sprache. Wer, etwa aus Anlaß eines Fußballkampfes, in Budapest war, weiß, wie sehr auch in Ungarn das Wissen um innerste Beziehungen zum alten Gegner, Rivalen und Freund, zu „Wien“, lebendig ist.

Neutralität heißt also zunächst einmal bereits für Oesterreich: lebendiges Wirken in den Südostraum Europas hinein. Diese konstruktive, auf neuen Wegen und vielfach mit neuen Mitteln zu realisierende Arbeit ist von allem Anfang an abzuschirmen gegen drei Denunziationen bzw. Mißdeutungen: es gibt heute, in nicht einflußlosen Kreisen der westlichen und östlichen Welt, eine militärische, eine germanistische und eine kleineuropäische Fehldeutung der österreichischen Neutralität, des österreichischen Anliegens, der österreichischen Existenz.

Die militärische Fehldeutung unterstellt Oesterreich den Versuch, militärisch-machtpolitisch die Völker Altösterreichs „erobern“ zu wollen, sie in den „Völkerkerker“ des alten Reiches (in dem sie so gut lebten, daß die Erinnerung daran unauslöschlich in ihre innere Existenz heute noch eingegraben ist) zurückführen zu wollen. Diese militaristische Fehldeutung wird eindeutig widerlegt durch die Formulierungen des Staatsvertrages, mehr noch durch die österreichische Wirklichkeit. Das österreichische Bundesheer wird nur einen Bruchteil der Streitkräfte und Ausrüstungen besitzen wie die nahöstlichen, wie alle Nachbarn unseres Landes — inbegriffen die kleinere Schweiz.

Die germanistische Fehldeutung besagt, daß Oesterreich sich dergestalt durch seine Neutralität aus seiner alten Verbundenheit mit den Ländern deutscher Zunge ausgliedern wolle. Das Gegenteil ist der Fall: Oesterreich kann seine legitime Funktion, Mittler gerade auch für deutsche Kräfte in den Südostraum und Mittelmeerraum Europas hinein zu sein, nur erfüllen, wenn es selbständig und eigenständig zwischen dem riesenhaften deutschen Potential und den kleineren und schwächeren Völkern und Staaten des Südostens steht. Als ein redlicher Mittler, der Kurzschlüsse und Fehlzündungen verhindern kann und eben deshalb ein hohes Maß von Selbständigkeit braucht.

Die kleineuropäische Fehldeutung der österreichischen Neutralität vermeint, daß Oesterreich dergestalt aus der Phalanx der freien Welt ausscheren wolle und irgendwie in die Hemisphäre des östlichen Machtblockcs hinüberschlitterte. Dieser Fehldeutung ist entgegenzuhalten: das Denken in restlos geschlossenen Blöcken ist ebenso antiquiert wie das Denken in Generalstabsbegriffen von 1918 im Morgen des Atomzeitalters. Die freie Welt kann sich als ein Block, etwa mit einem eigenen eisernen Vorhang, gar nicht behaupten; sie kann sich nur als Lebendiges halten, das es wagt, seine eigene Substanz in einem echten Konkurrenzkampf zu entfalten, der alle Kräfte des Leibes und der Seele, der Wirtschaft und Politik einfordert. Oesterreich lebt mit allen seinen Kräften in der freien Welt; und es ist eben deshalb berufen und verpflichtet, diese Lebenskräfte der freien Welt in die Räume seiner Nachbarschaft hineinzustrahlen. Oesterreich ist hier auf ein hohes Maß von Verständnis, von Mitarbeit der ganzen freien Welt angewiesen: es wird deren Vertrauen nicht enttäuschen, muß es aber eben deshalb von der f?eien Welt ernstlich erbitten, ja fordern — im Interesse aller.

Also schließt sich der Blickkreis, vom Bel-vedere aus; breit fällt die Sonne herein in die vielen offenen Fenster, in die offenen Portale. In diesem Schloß könnte eine neue Epoche beginnen und ein altes Zeitalter zu Ende gehen: das Zeitalter der Angst und des Mißtrauens. Die Gäste sind geladen. Und Oesterreich ist bereit, sie zu empfangen.

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