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Blitzfahrt durch Westdeutschland, Fruhjahr 1955

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Jene etwas vereinfachende Völkerpsychologie, die auf Grund eines überlieferten und durch keine höhere Instanz revidierbaren Vor-Urteils von den Franzosen feststellte, sie seien mit der Ehrenlegion dekoriert, äßen viel Brot, hätten schmutzige Fingernägel und verstünden nichts von Geographie oder, auf höherer reisephilosophischer Ebene, sie seien wesenhaft Gärtner; jene deduktive Völkerkunde, die noch vor der ersten Berührung mit einem Lande mehr von ihm weiß als dessen Bewohner, und die das dann an Ort und Stelle auf Schritt und Tritt bestätigt findet; jedes, eines das andere äffisch nachahmende Vierhandbuch des verachtend-betrachtenden Umgangs mit Nationen, das einen wenig Welträtsel aufgebenden Geist an Mikeswitzen erprobt: sie versichern vom heutigen Deutschland — das man bis auf Widerruf mit der von Bonn aus regierten Bundesrepublik gleichsetzen kann —, es habe nichts vergessen, nichts gelernt. Dort ißt man schlecht, feiste Weiber dienen sklavisch im Stechschritt marschierenden Hünen, beide Geschlechter sind unwahrscheinlich geschmacklos angezogen und wenig anziehend. Mit Schmissen bedeckte, Einglas tragende höhere Beamte walten über nach oben kriecherisch demütigen mittleren Staatsdienern, die ihrerseits nach unten auf die niedrigste Kategorie der Staatssklaven treten. Denen dann nichts übrigbleibt, als sich durch legendäre Grobheit und am germanischen Mythos genährte Brutalität an der Masse der Nichtbeamteten zu rächen. Ueber den Gipfeln der bürokratischen Pyramide aber schwebt, in eine Wolke von Arroganz gehüllt, ein hoher Adel, dessen verehrte Unwürde indessen nur das trügerische Aushängeschild für die reale Macht der alle Fäden in ihren — bildlich — schmutzigen Händen konzentrierenden Großindustrie und Großfinanz darstellt. In diesem Reich, über das die Sonne der reinen Vernunft nie aufgeht, jener Vernunft, die einst „der bekannte schottische Philosoph Kant in Kaliningrad“ vergebens seinen Zeitgenossen und Zeitungenossen pred,gte. sinnen des Teufels Generale, deren Geschäft der Mord ist, und Satans zivil verkleidete wilde Heereslieferanten auf einen neuen Weltkrieg, und die einen sagen dazu frisch und fröhlich, ob auch nicht fromm und frei, freudig ja. Die andern hüten sich, dazu nein zu sagen, mögen sie auch, je nachdem, Frommheit oder Freiheit oder beides auf ihr Banner geschrieben haben. In dieser Vorkriegs-Nachkriegs-Welt schuften kärglich bezahlte Arbeiter für Millionen arbeitlos erraffende Schufte; dichten, denken, reden in den Aether ausgebeutete und hündisch entlohnte Geistige, ihren nicht vorhandenen Intellekt opfernd, gemäß den Befehlen einer Kanaille von Herrschenden und Hablidien, die nur eine noch höhere dämonische Macht über sich anbeten: Wallstreet. Die breiten Massen der Werktätigen aber und die schmalen der Intelligenz hassen den Yankee, während die dumpfe Kleinbürgerschaft ihre Unlustgefühle am Erbfeind Frankreich abreagiert, alle aber, verblendet, den Iwan verabscheuen, der Antisemitismus blüht und das Heimweh nach dem Dritten Reich die armen Hinterbliebenen verzehrt.

Es hat mich verlockt, dieses zahlreichen Galeriebesuchern des großen Welttheaters, in dem wir zugleich Zuseher und Statisten sind, dargebotene Nachtstück mit der selbsterfahrenen Wirklichkeit zu vergleichen. Und so bestieg ich, bestiegen wir — denn ich hatte einen lieben Begleiter — kühn den Zug,, der uns hinter Salzburg ins gefährliche Abenteuer bringen sollte. Der erste Eindruck war schon beängstigend. Offenbar um die Fremden in Sicherheit zu wiegen, waren Zöllner und Grenzpolizisten von erschreckender Liebenswürdigkeit. Der berühmte schnarrend-schnoddrige deutsche Beamtenton hat sich offenbar weiter südlich verzogen, wovon wir beim Ueberschreiten einer andern — beileibe nicht der österreichischen oder schweizerischen — Grenze ein niedliches Beispiel empfingen. Doch wir waren ja in Bayern, das dicke Ende wird wohl in Preußen kommen? Nein. Die Preußen bestätigen zwar ihren Ruf, indem sie uns „janz jerne“ etwas erklären, im übrigen aber, beim Verlassen der Bundesrepublik in Richtung Saar nicht etwa einen kernigen Fluch und strafende Blicke ins vorläufig verlorene Kohlendorado nachschicken, sondern ein „Wünsche glückliche Reise“, „Darf ich mir erlauben, um den Paß zu bitten“, „Danke höflichst“. Und nach unserem Gepäck, unseren Devisen usw. haben sie so wenig gefragt, bei Einfahrt und Ausfahrt, wie Elsa von Brabant, ihre schon im Mittelalter verlorene Landsfrau, hätte sie Lohengrins Warnung beherzigt. Apropos Lohen-Tin. Treulich geführt, durchreisen wir das ganze Land. Immer und überall finden sich gebetene und mitunter ungebetene Ratgeber, die einen Straßen, Hotels, Gaststätten, ja sogar — man denke — Archive und Bibliotheken zeigen, sich nach Oesterreich erkundigen und, o Propaganda, versichern, s i e hätten weder das Dritte Reich noch den Anschluß gewollt, obzwar sie Oesterreich gar heiß liebten. Um es kurz zu machen, eine derartige Orgie an Höflichkeit und Zuvorkommenheit wie in diesen Tagen der Deutschlandfahrt haben wir seit langem nicht erlebt. Das war ein einziges Hackenzusammenklappen und Sichtiefverneigen — in den oberen Regionen — ein Chor von „Jawoll, mein Herr“ (solange wir inkognito blieben) und von ausgesuchten Bereitwilligkeitsformeln (samt einem der paar Titel, die wir als Auswahl zur Verfügung darboten): nämlich bei den „Gefolgschaften“ in Gaststätten, Büchereien, Rundfunksendern, Schriftleitungen. Obzwar man im heutigen Deutschland nicht mehr lügt, wenn man höflich ist — oder es wenigstens eine Lüge wäre, zu behaupten, man sei dort nicht höflich -, stimmt es mit der Abneigung, nicht gegen die Fremden, doch gegen die Fremdworte. Der Geist des zwar rassefremden, doch sehr teutonischen Eduard Engel muß frohlocken, blickt er aus dem ihm hoffentlich nach Kriegsende doch aufgetanen Walhall hinab auf Speisefolgen, die keine Menüs, auf vornehme Restaurants, die Schlemmergaststätten, auf Bibliothekare, die Bücherwarte, auf Redakteure, die Schriftleiter, ja auf Parfüms, die Dufteien und auf Chauffeure, die allesamt Fahrer sind.

Die französische Küche haben aber diese aufs Sprachliche beschränkten Säuberungen dennoch nicht ausrotten können. Sie hat sich verbreitet, wie ein Oelfleck und sie hat mit ihm auch das gemeinsam, daß sie fett macht. Da in Deutschland zur gallischen Qualität die bodenständige Quantität tritt. Selbst auf den Verdacht hin, als bestochen zu gelten, kann ich nicht umhin, mit zärtlicher Wehmut der kulinarischen Genüsse bei Walterspiel in München, in der „Alten Kanzlei“ zu Stuttgart, im stillen Bonner Hotel „Laroche“, ja sogar in einem auf den ersten Blick als Massenabfütterungsanstalt anmutenden Frankfurter gastronomischen Institut zu denken, dessen Namen mir leider entfallen ist. Also, die deutsche Küche hat sich hoch über ihr Vorkriegsniveau erhoben, noch höher über ihren Stand im Wilhelminischen Reich, dessen — des Standes der Küche und des Reiches — ich mich aus längst verklungenen Bonner Studententagen mit Entsetzen erinnere. Und weil wir schon bei der Ernährung halten — vom Trunk viel zu reden, erübrigt sich: darin waren die Deutschen stets obenauf, mit dem bayrischen Bier anzufangen und mit den Weinen des Rheins und der Mosel endend —, kurz ein Wort über die Kleidung. Soviel gutaussehende Männer wie in einigen westdeutschen Großstädten habe ich kaum,' soviel hübsche und elegante Frauen nur noch in Wien und in Mailand, und vor dem Kriege in Warschau und in Budapest gesehen. Auch da ist ein großer Wandel eingetreten, der schon beim Betrachten der Auslagen, etwa in München, Frankfurt, Wiesbaden und Köln, deutlich wird (nicht in Stuttgart, in Bonn oder im Ruhrgebiet, wo Geschmacklosigkeit und Bescheidenheit im unholden Verein wüten). Die korrekt und sogar die mit Schick gekleideten Deutschen beiderlei Geschlechts haben nur eine Achillesferse, also die unschönen Schuhe, die den Gesamteindruck stören.

Doch lassen wir die, nicht unerheblichen, weil eine seelische Gesamthaltung spiegelnden Aeußerlichkaiten, und lenken wir die Aufmerksamkeit au Fühlen und Meinen der Deutschen von heute. Zuvor aber noch dies. Die Umrisse, die ich von der sozialen Oberschicht und der höheren Mittelklasse gegeben habe und die im jetzigen Westdeutschland darum wichtig sind, weil sie — nur Demagogie oder Heuchelei dürfen das leugnen — für den politischen Kurs, für die wirtschaftliche Entwicklung und für die geistige Situation vordringlich, wenn nicht allein maßgebend sind, das mag einem gefallen oder nicht, finden ihre bestätigende Ergänzung bei jedem Kontakt mit anderen Sphären. Wohin wir auch gekommen sind, die Leute schienen zufrieden: Professoren und Gewerbetreibende, Kellner und Eisenbahner, Großindustrielle und Bauern, qualifizierte Arbeiter und Schriftsteller hatten zwar an vielen Einzelheiten zu mäkeln, waren indessen im allgemeinen quietschfroh. Und sie haben Ursache dazu. Die Reallöhne, die Einkommen sichern ein anständiges Existenzminimum. Das ärgste Uebel, die durch die unvorstellbaren Zerstörungen bewirkte Wohnungsnot, verschwindet allmählich. Ein zweiter Krebsschaden der deutschen Wirtschaft, das Vorhandensein von etwa zehn Millionen mittellosen oder zumindest entwurzelten und verbitterten Ostflüchtlingen, ist auf dem Wege langsamer Heilung. Wenigstens was die wirtschaftliche Seite des Problems betrifft, denn eben diese gewaltigen Scharen ressentimentgeladener Menschen belasten die deutsche Innenpolitik, vom Außenpolitischen her, mit einer drückenden Hypothek. Man begegnet ihnen überall im Westen. Den Einheimischen sind sie meist herzlich zuwider; doch das darf nicht laut eingestanden werden. Was nicht hindert, daß mir in München und in Stuttgart aus dem Munde aufrichtiger Männer aus dem Volke sehr zensurwidrige Aeußerungen über die unwillkommenen Gäste aus dem Osten gemacht wurden. Man erblickt in ihnen Konkurrenten, Lohndrücker und zugleich die unversöhnlichsten potentiellen Nutznießer an einem Revanchekrieg, zu dem im Westen Deutschlands niemand, außer ein paar berufsmäßigen Militaristen und Politikern, Lust verspürt. Doch davon ein anderes Mal.

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