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Bodenlcram

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Auf Schloß Pleschitz, unweit der polnischen Grenze, hauste Herr von Perkau. Es war ein kleines altes Schloß, in einem großen Park zwischen riesigen Bäumen. Eine uralte Lindenallee führte an einem dunklen Teich vorüber in ein kleines slowakisches Dorf, das nur wenige Häuser zählte. Das Schloß war ehedem ein Kloster gewesen, und die Zeit hatte ihm übel mitgespielt. Der letze Schloßherr mußte sich damit begnügen, da und dort zu flicken und zu bessern, wo es sich gerade am nötigsten erwies.

Er war ein alter Mann, schon über sechzig, hatte weder Frau noch Kind und war in seiner Einsamkeit ziemlich weltfremd geworden. Nur zur Zeit der Jagden kamen ein paar Gäste und fuhren wieder fort. Dann lebte er wieder in seine Erinnerungen eingesponnen im gleichmäßigen Wechsel der Tage. Es war ein Erlebnis, als der Dachstuhl schadhaft zu werden begann und Ausbesserungen sich als unumgänglich notwendig erwiesen.

Es war noch Zeit bis zum Früherbst, da die Arbeiten durchgeführt werden sollten. Inzwischen konnte der Dachboden freigemacht und gesäubert werden. Das war für den Schloßherrn eine willkommene Zerstreuung. Schon seit Jahrzehnten hatte er sich vorgenommen, den seit zweihundert Jahren angesammelten Bodenkram einmal gründlich durchzusehen und zu sortieren. Er stieg über die staubbedeckte Bodentreppe hinauf. Marja, die alte, aber immer noch flinke Magd, mußte eine Dachluke öffnen und ein uraltes Fauteuil in die Mitte des Gerumpels schieben. Der Herr nahm Platz, bewehrt mit einem alten Reitstock, den er unter einem wurmstichigen Kasten hervorgezogen hatte, und deutete zunächst auf einen riesigen Schrank, den Marja, das fette Knie anstemmend, mit Mühe öffnete. Er war mit uralten Akten gefüllt, die noch aus der Zeit stammten, da der Gutsherr die Gerichtsbarkeit über die umliegenden Dörfer ausgeübt hatte. Alles zu lesen war unmöglich. Deshalb wählte Herr von Perkau einen besonders gut erhaltenen Akt aus und legte ihn beiseite, um ihn abends in Muße durchzulesen. Den Rest verdammte er zur Papiermühle.

Ähnlich erging es ihm mit einer großen Kiste alter Briefe. Von diesen behielt er schließlich nur einen sorgfältig verschnürten und versiegelten Pack von Briefen. In einer alten Klavierkiste fand sich allerlei Theatermaterial, Federhüte, Halskrausen, Handschuhe, Ritterhelme und dergleichen. Von hier nahm er einen goldenen Schuppenpanzer, der offenbar einst die zierliche Gestalt eines Mädchens, das Schillers Jungfrau von Orleans dargestellt, umhüllt hatte, und das schön geschriebene Manuskript eines Trauerspiels „Verratene Liebe“, von Ottokar Hornau. Das war genug für den ersten Tag. Er hieb noch einmal mit dem Stock auf den Berg, den Marja aufgetürmt hatte, und sagte: „Nimm dir davon, was du brauchen kannst, das andere schaffe in den leeren Hühnerstall. Das Papier wird der Mann von der Papierfabrik holen.“

Abends beim Schein der Lampe vertiefte er sich in die gefundenen Schätze. Der Prozeßakt stammte aus dem Jahre 1819. Simon Hadina kämpfte gegen Jan Stursa um die Podles-Wiese. von der beide behaupteten, daß die Wiese seit urdenklichen Zeiten ihren Vätern gehört habe. In vielen untertänigen Worten wurde die hohe Obrigkeit um Gerechtigkeit angefleht. Die Entscheidung war leider den Mäusen zum Opfer gefallen und vermodert wie die Menschen, die einst so hitzig stritten.

Nachdenklich legte er den Akt beiseite und griff zu dem Paket Briefe. Alle waren mit „Innigstgeliebte Anna“ überschrieben und unterzeichnet mit „Ewig und unwandelbar Dein treuer Rudolf“. Nicht ohne Wehmut las er die Ergüsse einer flammenden Leidenschaft. Wie kamen diese Briefe in den Bodenkram? Richtig, jetzt fiel es ihm ein. Vor vielen Jahren hatte sie ihm sein Freund Rudolf Seydler zur Aufbewahrung übergeben, ehe er seine abenteuerliche Afrikareise antrat. Seine Frau hieß Anna. Das traf sich ja ausgezeichnet. Da konnte er ihm demnächst ein hübsches Angebinde zur silbernen Hochzeit senden.

Nun, und der gordene Schuppenpanzer war auch eine schöne Erinnerung, die aus dem dunklen See der Vergangenheit auftauchte. Frau von Ogonski, damals noch ein Mädchen von siebzehn Jahren, hatte die Jungfrau von Orleans gespielt. Alle männlichen Darsteller, Karl der Siebente, Philipp der Gute, Lionel und Montgomery waren in sie verliebt gewesen und hatten versucht, das Herz unter dem goldenen Panzer zu rühren. Er selbst hatte nur den „anderen Landmann“ gegeben. Aber er erinnerte sich gut an sein heftiges Herzklopfen beim Anblick des holdseligen Geschöpfes. Seit ihrer Hochzeit hatte er sie nicht mehr gesehen. Nein, er mußte sie wieder einmal besuchen. Die goldene Jugenderinnerung bildete den besten Anlaß.

Und das Trauerspiel des lieben, alten, längst vergessenen Ottokar? Er war freilich kein Dichter gewesen, aber ein angesehener Statthaltereirat, den seine heimliche Liebe zur Dichtkunst über das trockene Beamtentum hinaushob. Ja, dieses Manuskript mußte er gelegentlich dem Sohne Ottokars zurückstellen. Neues Leben erwachte aus dem Bodenkram. Herr von Perkau dachte mit heimlicher Befriedigung daran, wie er nun ein Füllhorn von Freude über die graue Welt ausstreuen werde.

Im Bett sann er über die Streitsache Simon Hadina und Jan Stursa nach. Er hätte gerne die Erledigung gewußt. Die Podles-Wiese stand noch in alten Karten und es lebten auch noch Nachkommen der Streitparteien. Der Bauer Michael Hadina hatte drei Kühe und lebte recht gut. Sein Nachbar Josef Stursa war ein armer Kleinhäusler geblieben, wie es wahrscheinlich auch sein Urahn gewesen war. Er ging vormittags hinüber und traf die beiden Nachbarn gerade in friedlichem Gespräch. Als ihnen der Gutsherr von dem Streit ihrer Vorväter erzählte, hörten sie aufmerksam zu und erwiderten nach ihrer Gewohnheit nichts. Sie schienen von der ganzen Sache nicht das Mindeste zu wissen. Herr von Perkau lobte ihre gute nachbarliche Verträglichkeit, dann ging er. Die Menschen waren doch besser geworden seit 100 Jahren.

Dann begab er sich wieder in sein Zimmer, verpackte das Trauerspiel sorgfältig und schickte es mit einigen freundlichen Begleitworten an Herrn Berthold Hornau, Bankbeamten in Prag. Die Briefe wickelte er in rosa Seidenpapier, band eine ebensolche Schleife herum und schrieb dazu: „Lieber alter Freund! Herzliche Gratulation zu Eurem schönen Feste und eine kleine Überraschung aus der Rosenzeit von Eurem alten Heinrich.“ Und nun war noch das Beste übrig, der Harnisch der Jungfrau von Orleans. Diesen beschloß er selbst zu überbringen. Er ließ einspannen und fuhr hinüber zur Frau von Ogonski.

Knirschend fuhr der Wagen über den Kies vor dem Herrenhause. Er stieg aus, die Hausfrau kam gerade aus dem Park. Und nun empfand Herr von Perkau das, was vermutlich ein Ozeanschiffer empfinden würde, wenn ihm an der amerikanischen Küste plötzlich die Freiheitsstatue über Long Island entgegengewandelt käme. Das zierliche Püppchen, das als Fräulein Irene immer noch ein lichtes Kämmerlein im Hause seiner Erinnerungen bewohnte, wurde vom Schlage gerührt und war auf der Stelle tot. Die Witwe Ogonski überragte ihn um Haupteslänge, ihre Oberlippe trug einen dunklen Schnurrbartanflug, und der Harnisch der Jungfrau von Orleans hätte ihr auch als Beinschiene nicht mehr gepaßt. Alles an ihr war ungeheuer, ihre Gestalt, ihre Stimme und ihre Gastfreundschaft. Sie lud Herrn von Perkau sofort zu einem Riesengabelfrühstück ein, Batterien von Schnäpsen fuhren auf, denn seit dem Tode ihres Mannes trank Frau v. Ogonski gern. Sie rauchte auch Zigarren und nötigte Herrn von Perkau gleichfalls zu rauchen, soweit ihm das Essen Zeit hiezu ließ. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er beschloß, noch vor dem Mittagessen abzureisen. Aber das war unmöglich. Es waren bereits zwei Truthähne, ein Hase und ein Dutzend Rebhühner mit zahllosen Zuspeisen in Zubereitung. Er mußte über Nacht bleiben. Und dann ging die Sache wieder von vorn an. Sie ließ ihn nicht fort. Der Besuch dauerte eine Woche. Dann ergriff er die Flucht.

Als ihn der Kutscher wie einen Schwerkranken aus dem Wagen hob, stand schon der Bauer Josef Stursa da, untertänig den Hut in der Hand. Er bat Herrn von Perkau um seine Unterstützung in dem Prozeß, den er gegen seinen Nachbarn Michael Hadina begonnen hatte. Denn er hatte bei allen alten Leuten herumgefragt und erhoben, daß Hadina die Podles-Wiese gänzlich zu Unrecht besitze und daß diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, die ihm, Josef Stursa, schon seit vielen Jahren das Leben verbittere, endlich beseitigt werden müsse. Eine Stunde später kam Michael Hadina und ersuchte um Verhaftung des Stursa wegen unberechtigter Ansprüche und gefährlicher Drohung.

Auf dem Schreibtisch lag ein Brief: „Lieber Freund! Vielen Dank für Deine freundlichen Glückwünsche, die mich noch viel mehr gefreut hätten, wenn die unseligen Briefe nicht beigelegen wären. Die betreffende Anna war nämlich nicht meine Frau und mir hätte am Tage meiner silbernen Hochzeit nichts Unangenehmeres passieren können, als daß diese Briefe meiner Frau in die Hände fielen. Sie ist sehr eifersüchtig, und ich werde Mühe haben, ihr Mißtrauen bis zur goldenen Hochzeit zu überwinden. Ich bitte Dich sehr, wenn Du wieder einmal irgendwelche Überraschungen vorhaben solltest, Dich lieber doch vorher mit mir in Verbindung zu setzen.“

Seufzend legte Herr von Perkau den Brief weg. Nachmittags, während sich gerade die Bauern Stursa und Hadina auf dem Hofe prügelten, traf ein Besuch ein. Es war Bertold Hornau, der vor kurzem abgebaut worden war und nun beim Empfang des Theaterstücks den Plan gefaßt hatte, ein literarisches Büro zu gründen. Er bat nur um einen kleinen Vorschuß von fünftausend fürs erste und erbot sich, Kammern und Keller nach literarischen Schätzen zu durchforschen. Er blieb zwei Monate, nur so lange, bis die Hypothek eingetragen war, die Herr von Perkau aufnehmen mußte, um ihm wenigstens dreitausend zu geben. Die Karlsbader Kur, die durch den Besuch bei Frau von Ogonski nötig geworden war, mußte verschoben werden.

An dem Tage, da das Häuschen des Hadina von unbekannter Hand angezündet wurde, kam ein Brief von Hornau, in dem er behauptete, es müßten sich noch mehrere Theaterstücke von Ottokar Hornau auf Schloß Pleschitz befinden, er möchte persönlich nachsehen kommen... — „Marja!“ rief Herr von Perkau, „geh sofort hinauf und schaffe alles, was noch da ist, unbesehen hinunter in den Hühnerstall, es wird noch heute abgeholt.“ Dann telegraphierte er der Papierfabrik. Am Abend dieses Tages waren alle Bodenräume und Kammern leer. Durch die geöffneten Dachluken fegte der Zugwind.

Herr von Perkau aber saß in seinem Zimmer. Er hatte Angst vor dem Nachtmahl und gedachte des schönen ruhigen Lebens, das er geführt hatte, ehe die Geister des Bodenkrams entfesselt worden waren. Denn den grauen Schleier des Staubes. den das Schicksal wohltätig über die vergangenen Dinge breitet, soll die unwissende Hand des Menschen niemals fortziehen.

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