Porträt - © Illustration: Rainer Messerklinger

Die Monster Zuhause: Romane von Marlen Pelny und Mirthe van Doornik

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Marlen Pelny und Mirthe van Doornik thematisieren in ihren Romanen Gewalt und Vernachlässigung durch die Eltern.

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Marlen Pelny und Mirthe van Doornik thematisieren in ihren Romanen Gewalt und Vernachlässigung durch die Eltern.

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Im Märchen wird die Schuld gerne auf die böse Stiefmutter abgewälzt. Sie ist nicht blutsverwandt, was erklärt, weshalb ihr die Mütterlichkeit und der Fürsorgeinstinkt abgehen. Die gute Mutter ist hingegen tot, sie kann sich nicht mehr kümmern. Es ist ein banaler, aber sehr effektiver Trick (oftmals von der Originalversion der Märchen abweichend), um von Gewalt an Kindern und ihrer Vernachlässigung erzählen zu können, ohne der Realität ins Auge schauen zu müssen, wer die wirklichen Täterinnen und Täter oftmals sind. Im echten Leben sind es eben meistens keine Stiefmütter, sondern die leiblichen Eltern, die ihre Kinder misshandeln, sexuell missbrauchen und/oder sie vernachlässigen. Davon zu erzählen, gehört zu den schwierigsten literarischen Aufgaben.

Die holländische Dokumentarfi lmerin und Autorin Mirthe van Doornik erzählt in ihrem Debütroman „Uns zusammenhalten.“ von zwei Mädchen, die unter ihrer alkoholkranken Mutter leiden. Besser gesagt, sie lässt Kine und Nico abwechselnd selbst erzählen, wie es ist, die Verantwortung für sich selbst, einander und die Mutter noch dazu übernehmen zu müssen, wie es ist, mit der Unberechenbarkeit zu leben, ob wieder ein brennender Topf auf dem Herd steht, wenn man von der Schule nach Hause kommt, oder die Mutter nachts schimpfend im Kinderzimmer auftaucht. Kine und ihre ältere Schwester Nico haben einen unterschiedlichen Umgang mit ihren „verschiedenen Müttern“ entwickelt, wie sie die wechselnden Alkoholisierungsgrade und mentalen Zustände ihrer Mutter nennen. Die kleine Kine glaubt immer wieder, dass sich etwas ändert, sie sehnt sich nach der Zuneigung der Mutter und ist bereit, ihr ihre Aussetzer und Übergriff e zu verzeihen, Nico hat die Hoff nung darauf schon längst aufgegeben. Insgesamt lässt Mirthe van Doornik 17 Jahre vergehen, in denen die Schwestern füreinander da sind und mit sich selbst ringen, lernen, sich von der Mutter, der sie in Wahrheit nicht helfen können, zu lösen. Sie erzählt eine tragische Geschichte, die dennoch von Licht durchdrungen ist.

Eine ganz andere Strategie als van Doorniks unaufgeregten Realismus wählt die deutsche Autorin Marlen Pelny. Wo van Doornik Graustufen walten lässt, setzt Pelny auf grellere Eff ekte. Auch sie lässt ihre Protagonistin Sascha selbst erzählen, von der Mutter, die sie gar nicht wahrnimmt, weil sie nur auf den Vater fi xiert ist. Und weil sie, wenn sie Sascha sehen würde, über andere Dinge ebenso wenig hinwegsehen könnte. Über die Tür zu Saschas Zimmer, die sich plötzlich nicht mehr verschließen lässt. Über die Blicke, die der Vater seiner minderjährigen Tochter im Rückspiegel zuwirft. Der trostlosen Verwahrlosung des Lebens bei ihren Eltern in einem Hochhaus stellt Pelny ein märchenhaft anmutendes Szenario entgegen, als Sascha nach dem Tod ihrer Großmutter zu ihrem Großvater gebracht wird. Dort bekommt sie die Hündin, die sie sich immer gewünscht hat, und eine Freundin, Charly, mit der sie die andere Form von Liebe entdeckt, die es auch gibt. Nur die Päckchen, die der Vater regelmäßig schickt, stören diese Idylle. Pelny überzeichnet und spitzt zu, das Symbolhafte und Hypertrophe bestimmt ihre Ästhetik und man merkt, dass die Autorin auch in anderen Künsten zuhause ist. Als die Mutter krank wird, ist Sascha zur Rückkehr gezwungen. Begleitet wird sie aber von der Hündin Rosa und dem Großvater, ein schräger Kampftrupp mit surrealen Zügen, dessen Charme man sich nur schwer entziehen kann.

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