gelb - © Illustration: Rainer Messerklinger

"Dschomba" von Karin Peschka: „Siehst du ...?“

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Scheinbar verschwundene Vergangenheit und die Kraft der Fiktion: Karin Peschka führt mit ihrem neuen ­Roman „Dschomba“ ins Ober­österreich der 1950er und 1970er Jahre.

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Scheinbar verschwundene Vergangenheit und die Kraft der Fiktion: Karin Peschka führt mit ihrem neuen ­Roman „Dschomba“ ins Ober­österreich der 1950er und 1970er Jahre.

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Die Kleinstadt Eferding in Oberösterreich, nicht weit weg von Linz, nahe bei Hartheim, in den 1970er Jahren. Ein Mädchen wächst dort als Wirtstochter auf. Das bedeutet: Familie und Geschäft sind eins; das bedeutet: mithelfen in der Gaststube, wann immer es geht – das bedeutet aber auch: viel hören und viele Menschen beobachten können und kennenlernen. Sogar wissen, wer was isst und trinkt. Denn die Essgewohnheiten ändern sich so wenig wie die Sitz- und andere Gewohnheiten.

Das Mädchen hört und fragt und ist neugierig. Vor allem interessiert es die Geschichte von jenem Fremden, der eines Tages im November 1954 auf dem Eferdinger Friedhof aufgetaucht ist und dort zwischen den Gräbern getanzt hat. Keine Schuhe soll er angehabt haben, sagen die einen. Nackt soll er gar gewesen sein, sagen die anderen. Jedenfalls störte er die Totenruhe, die Kleinstadtruhe.

Karin Peschkas neuer Roman „Dschomba“ erzählt in zwei Zeitebenen, die immer mehr miteinander verbunden werden: Die eine Geschichte beginnt im November 1954 und umfasst auch den Mai 1955, ein für Österreich so wichtiges Datum. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht lange her, die Fahnen wurden heimlich verbrannt, so manche Erinnerung wurde weggeschlossen. Man versucht zu leben, als wäre nichts gewesen. (Zeitlich und thematisch knüpft der Roman damit an Peschkas Debüt „Watschenmann“ von 2014 an.)

Da taucht dieser Fremde auf (den man aus diesem Roman bereits kennt), wird misstrauisch beäugt, mit Gerüchten bedacht, vom Dechant der Kleinstadt aber freundlich aufgenommen. Immer mehr und mehr Menschen werden sich um dieses Duo gruppieren, ihre Schicksale werden erzählt oder zumindest angedeutet. Dies alles beginnt mit der Szene auf dem Friedhof: „Hockten zwei Männer auf einem Friedhof vor einer Laterne, wie ums Lagerfeuer in einer anderen Welt. Kannten sich nicht, aber kümmerten sich.“ Es ist eines jener Motive, die sich auch in Karin Peschkas anderen Romanen finden lassen, Gegengeschichten zur allseits verbreiteten Version, Menschen seien immer nur Egoisten.

Die zweite Erzählebene spielt in den 1970er Jahren, im und um das Wirtshaus von Herrn Peschka, der dort mit seiner Familie nicht nur Kalbskopfschnitzel serviert. Da sitzt auch ab und zu der Serbe Dragan Džomba, er redet nicht viel. Seine Geschichte ist mit dem Haus, der Familie, dem Ort mehr verbunden, als das Mädchen ahnt: „Er, Herr Džomba, war vor uns da, und wir haben ihn nicht bemerkt“, heißt es mit bewusst biblischem Anklang.

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Er, Herr Džomba, war vor uns da, und wir haben ihn nicht bemerkt.

Vieles, was über das Leben des Mädchens im Wirtshaus erzählt wird, ist autobiografisch, der Name Peschka weist darauf hin. Und doch ist dieser Roman eine Fiktion: Dragan Dschomba, wie er nun geschrieben wird, ist der Erwachsene, der von der Vergangenheit weiß, die nicht nur unter der Haut von Menschen, sondern auch unter jener der Landschaft lauert. Und die, so scheint es ihm, sich jederzeit aufrichten und aus der Erdoberfläche hervorkommen kann. Dann sieht man auf einmal die Baracken, die einst hier auf den Feldern standen, dann hört man die Stiefel von damals.

Die Fiktion deutet ein historisches Faktum an: In der Nähe von Eferding gab es auf den Feldern und Wiesen der Gemeinden Aschach und Hartkirchen ab 1915 ein Lager, in dem in mehr als 450 Baracken 30.000 Kriegsgefangene eingesperrt waren. 1941 wurde dort mit dem „Stalag 398 Pupping“ erneut ein Kriegsgefangenen­lager errichtet. Eine ganze Stadt ist verschwunden. Denn keine einzige Baracke,­ keine Gedenktafel erzählt davon, keine Heimatkunde in der Schule. Geblieben ist nur der sogenannte Serbenfriedhof, wo ­Dschomba bald das Wächterhäuschen bewohnt und „auf dem neben den fünftausenddreihundertzweiundsechzig Serben auch vierhundertzwanzig Italiener, hundertvierzig Russen, vierundsiebzig Unbekannte, fünfzehn Österreicher, sieben Albaner, sechs Rumänen, ein Franzose, und, im Zweiten Weltkrieg dazugekommen, weitere eintausendsiebenundzwanzig russische Soldaten eine letzte Ruh gefunden haben sollen, die keine war und keine sein konnte“.

Karin Peschka, Jahrgang 1967, aufgewachsen in Eferding, hat erst als Erwachsene erfahren, dass es dieses Lager gab. In diesem Roman erfindet sie dem fragenden Kind mit Dschomba eine fiktive Figur, deren Schicksal mit diesem Lager verknüpft ist und aufgrund derer das Mädchen davon überhaupt erst erfährt. Denn alle anderen schweigen darüber. Ihr Roman entwirft erzählend die Ethnografie einer Kleinstadt und einer Gesellschaft – jener der 50er Jahre, jener der 70er Jahre, Hierarchien zwischen Mann und Frau, Gewalt an Kindern inkludiert.

Peschka erzählt in Szenen und Kapiteln, die wie kleine Erzählungen wirken und jeweils so aufhören, dass man innehalten kann und zugleich weiterlesen will. Ihre Figuren beschreibt sie empathisch, sie lässt sie oft erst nur kurz in den Blick kommen, quasi vorübergehen, später erfährt man mehr, dann verliert man sie wieder aus dem Blick, verschwinden sie. Sie erzählt nie alles aus.

Was man erfährt, erfährt man oft indirekt, etwa weil einer es über jemand anderen sagt. Die Erzählperspektive kann wechseln, von einem Kopf zum anderen, auch während eines Gesprächs. Widersprüche werden so sichtbar, auch dadurch entsteht Humor. Für die Perspektive des Mädchens im Wirtshaus wiederum verwendet die Autorin kein „ich“, sondern durchgängig den Infinitiv, mit beeindruckender Wirkung.

Peschka schreibt elliptisch, was schon in ihrem ­Romandebüt „Watschenmann“ aufgefallen ist. Und sie hat umgangssprachliche Redewendungen eingebaut, die nicht nur in die Region führen, sondern auch Denk­weisen offenlegen, wie etwa die Phrase: „Die Mutter ist g’straft mit so einer Tochter.“

Unterschiedliche Weisen der Erinnerung und des Nichterinnerns erzählt „Dschomba“, vom Suchen bis zum Wegsperren, vom Lügen, das helfen soll, bis zum plötzlichen Hervorbrechen der Vergangenheit. Beim Nicht­erinnern gleichen sich die 1950er und die 1970er Jahre sehr.

Auch die Fiktion leistet ihren Beitrag zur Erinnerungskultur, zeigt dieser Roman, und zwar ohne irgendetwas historisierend auszumalen. Die Baracken bleiben verschwunden, sie richten sich nur in der Fantasie des Serben Dschomba wieder auf. Die Spuren seines Bruders verlieren sich dort im Ersten Weltkrieg; wie dessen Leben dort ausgesehen hat: Dragan wird es nie wissen. Peschka vermeidet ein Erzählen dessen, was auch für Dschomba im Dunkeln liegt. Sie bleibt respektvoll und dezent hinter dem Zaun, um ein Bild aus dem Buch aufzugreifen.

Da stehen das Mädchen und Dschomba am Zaun des Serbenfriedhofs und schauen auf die Felder. Die Frage des Serben an das österreichische Mädchen ist die Frage des Textes an seine Leserinnen und Leser: „Am Zaun stehen und zuhören. Herr Džomba erzählt von einem Lager und einem Pavle oder Paja, er zeichnet Baracken in die Luft und zeigt von hier nach da und weit nach hinten. ‚Siehst du, Devojka?‘“

Dschomba - © Otto Müller
© Otto Müller
Literatur

Dschomba

Roman von
Karin Peschka
Otto Müller 2023
378 S., geb., € 26,–

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