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Einfach weiterschreiben?

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Worüber schreiben in einem historischen Moment, in dem die Dystopie Wirklichkeit geworden ist? Reflexionen einer Schriftstellerin.

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Worüber schreiben in einem historischen Moment, in dem die Dystopie Wirklichkeit geworden ist? Reflexionen einer Schriftstellerin.

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Homeoffice. Auf einmal gab es ein Wort für den Arbeitsplatz, den man als Schriftsteller immer schon hatte. Und zwar auf Deutsch, denn auf Englisch sagt kein Mensch „Homeoffice“. „Working from home“ oder „remote work“ wird das genannt, was früher, also vor Covid-19, in erster Linie Mütter mit kleinen Kindern machten.

Die wenigsten Schriftsteller besitzen ein separates Büro. Zuhause haben sie einen Schreibtisch oder im besten Fall ein Arbeitszimmer. Nun aber mussten wir hören, wie uns Menschen am Telefon aufgeregt mitteilten: „Ich bin gerade im Homeoffice!“ Wir stellten sie uns ungekämmt und im Pyjama vor, vermutlich zu Recht. Sie waren es nicht gewöhnt, so wie wir. Sie waren nicht dafür eingerichtet. „Tut mir leid, dass ich die Apostrophe falsch geschrieben habe – ich habe im Homeoffice keinen richtigen Computer, und auf meinem Mini-Laptop sehʼ ich das nicht so genau!“ „Ich weiß noch nicht, wie ich das mit dem Ausdrucken mache – ich habe im Homeoffice ja keinen Drucker.“ „Entschuldigung, ich muss auflegen – es klingelt gerade an der Tür ...“ Zehn Minuten später: „Das war der Postbote. Ich musste die Pakete für die ganze Nachbarschaft entgegennehmen.“

Ja, liebe Neulinge, die ihr gedacht habt, dass wir Schriftsteller einfach immer „daheim“ sind – für uns ist das Alltag. Für eine vernünftige Büroausstattung muss man selbst sorgen, und die ganze Umgebung betrachtet einen als Paketannahmestelle. Natürlich ist euer Homeoffice etwas viel Ernsteres und Seriöseres als das, was wir zuhause machen. Denn ihr stellt euch uns ungekämmt und im Pyjama vor, wenn wir nach langen Liebesnächten und entspannten Frühstücken verträumt die ersten Telefonate entgegennehmen, bevor wir ins Kaffeehaus mittagessen gehen, mit unseresgleichen plaudern und dann nahtlos zum Abendschoppen weiterziehen, nachdem wir irgendwo im 13A-Bus einen halben Roman aus dem Ärmel geschüttelt haben.

So änderte sich arbeitsplatztechnisch für uns Schriftsteller nach dem Lockdown im März 2020 wenig. Aber einfach weiterschreiben ging für viele von uns nicht.

Da waren einmal äußere Umstände, die neu waren. Wir waren nicht mehr allein in unserem Hort der Stille, sondern auch der Partner war plötzlich im Homeoffice, die Kinder ohne Kindergarten, mit „Homeschooling“ und „Distance Learning“ zu unterrichten (offenbar verleihen englische Bezeichnungen allen Tätigkeiten eine professionelle Krisenmanagement-Aura) oder mit der Uni nur mehr online in Kontakt. Plötzlich wurde es eng und laut und das von früh bis spät. Die Anderen hingegen, die allein lebten, waren nun wirklich allein, da ihres sozialen Ausgleichs beraubt. Keine Veranstaltungen, keine Lokale, kein Museum, kein Theater, keine Buchmessen, Lesereisen, Signierstunden. Wenn das Wetter es erlaubte, traf man sich mit forciertem Galgenhumor und Weinstifterln im Park.

Das schriftstellerische Bestreben, etwas ‚von bleibendem Wert‘ zu schaffen, war schon lange vor der Pandemie zur Schimäre geworden.

„Vor wirklichen Menschen kann man sich verleugnen lassen, Gedankengäste ist man gezwungen anzunehmen“, schrieb Karin Michaëlis in ihrem 1910 erschienenen Roman „Das gefährliche Alter“ über eine Frau, die sich auf eine einsame Insel zurückzieht. Und: „[…] ich bin Sklave derer, die auf diesem Wege ungerufen zu mir kommen. In der Stadt war es anders. Dort spülte der eine Eindruck den anderen weg. Ich merkte nicht die Mühe des Denkens.“ Diesen Gedankengästen, dieser Mühe des Denkens in der Einsamkeit setzt man sich als Schriftsteller bei der Arbeit immer aus. Dann allerdings brauchen die meisten von uns den Weg ins gesellschaftliche Leben, wo der eine Eindruck den anderen wegspült und so Erholung bringt von den komplexen Verstrickungen aus Erinnerung, Planung und Fantasie.

Doch selbst wenn die Produktionsbedingungen stimmten – worüber schreiben in einem historischen Moment, in dem die Dystopie über Nacht Wirklichkeit geworden war? War das, woran man gerade arbeitete, überhaupt noch relevant und würde es für einen absehbaren Zeitraum weiterhin sein? Als Schriftsteller ist man schon aufgrund der oft mehrjährigen Produktionszeiten mit großen Zusammenhängen befasst. Wer Tagesaktuelles einfließen lässt, tut dies auf eigene Gefahr. Der Politiker, den man in einen Roman heute mit hineinnimmt, kann bis zum Erscheinen desselben bereits abgewählt sein und in zwei Jahrzehnten vollkommen vergessen.

Einige von uns hatten mit Ausbruch der Pandemie Gelegenheit, Teil eines interessanten Experimentes zu werden. Das Literaturhaus Graz lud achtzehn Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein, an­fangs wöchentlich, später in größeren Abständen, Corona­tagebücher zu schreiben. Im Rahmen dieses Projektes bewegten wir uns so nah am unmittelbaren Zeitgeschehen wie selten. Was heute angenommen wurde, konnte morgen schon wieder hinfällig sein. Das Schreiben für die vermeintliche Ewigkeit wurde zum Dahinhanteln von Versuch zu Versuch.

Doch das schriftstellerische Bestreben, etwas „von bleibendem Wert“ zu schaffen, war schon lange vor der Pandemie zur Schimäre geworden. Wer sich ernsthaft mit der Klimakatastrophe und der damit verbundenen Selbstauslöschung der Menschheit beschäftigt, macht sich keine Illusionen darüber, dass es in hundert Jahren noch jemanden geben wird, der das eigene, so mühsam produzierte Werk liest. Zwischen Pleistozän und Anthropozän war die Literatur nur ein äußerst flüchtiges Geschäft. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir darüber hinweg oder daran vorbei schreiben: Wir sind zu Chronisten des Untergangs geworden. Covid-19 ist Teil dieses Untergangs, denn es ist, wie praktisch jede Pandemie, eine Zoonose und hat mit der menschlichen Ausbeutung der Tierwelt und der Zerstörung der Wildnis zu tun.

Jedes Schreiben über die soziale Frage, Gleichberechtigung oder gar die Sprache selbst wird sinnlos gewesen sein, wenn es das seinen eigenen Lebensraum zerstörende Tier Mensch nicht mehr gibt. Wir können weiterhin Kinderbücher schreiben, in denen glückliche Eisbärfamilien am Nordpolareis herumtollen, auch wenn es in wenigen Jahren weder Nordpolareis noch freilebende Eisbären mehr geben wird.

Wir können uns über Menschen lustig machen, die für die Schweine in industrialisierter Haltung Stroh statt Vollspaltenböden verlangen, weil wir denken, es gäbe Wichtigeres auf dieser Welt – es wird nichts daran ändern, dass auch wir betroffen sind, wenn wir das Fleisch dieser schwerverletzten, kranken Schweine essen und damit die Antibiotika, die man ihnen gibt. Wir werden multiresistenten Keimen ausgesetzt sein, und es wird vielleicht kein Mittel mehr dagegen geben. Wir können auf die Kuh scheißen, deren Fleisch wir verzehren, aber es wird nichts daran ändern, dass das Verdauungssystem dieser Kuh zum CO2-Ausstoß beiträgt und damit zu einer klimabedingten Flüchtlingswelle, deren Ausmaß im Grunde abseh- und ausmalbar ist.

Wir sind die Musikkapelle auf der sinkenden Titanic, und einen letzten Halt im Ausüben seines Handwerks zu finden – und vielleicht zu geben –, ist ja auch nicht verkehrt.

Eugenie Schwarzwald - © Mandelbaum Verlag
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Über Eugenie Schwarzwald

Von Bettina Balàka
Mit einem Nachwort von Robert Streibel
Mandelbaum 2020
112 S., geb., € 12,–

Brünn - © Deuticke Verlag
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Die Tauben von Brünn

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Deuticke 2019
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Kaiser, Krieger - © Haymon Verlag
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Kaiser, Krieger, Heldinnen - Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit

Von Bettina Balàka
Haymon 2018
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