Ganz schön politisch
FOKUSMichael Stavarič: „Mit Poesie lassen sich keine Kühe melken“
Hinausgelesen: Brigitte Schwens-Harrant las Michael Stavaričʼ Langgedicht „zu brechen bleibt die See“.
Hinausgelesen: Brigitte Schwens-Harrant las Michael Stavaričʼ Langgedicht „zu brechen bleibt die See“.
Was kann man denn schon mit Poesie? Mit ihr lassen sich keine Rechnungen begleichen und keine Operationen durchführen. Man kann mit ihr weder das Klima beeinflussen, noch Brot backen. Poesie rettet keine Wale und sie hält auch nicht den Tod von seiner Arbeit ab. Mit Poesie lässt sich kein Selfie machen, man kann mit ihr keine Bienenköniginnen aufziehen, keine Autos betanken, keinen Akku aufladen. Mit Poesie lassen sich keine Kartelle oder Marmorsteinbrüche betreiben und keine Viren vertreiben. Mit Poesie gehen Einkommenseinbußen einher, „da kann man machen was man will / ganz egal wie viele Wörter man hintereinander / auf eine unsichtbare Schnur fädelt / ungeachtet dessen wie oft man die Schnur / um die Welt spinnt / und spannt und schnürt und führt / die Menschheit stürmt vorbei hindurch / durchtrennt zerfetzt hinterlässt / kaum noch erkennbare Versfragmente / die wie Mückenlarven in einer Regentonne / zucken und tanzen / aus der Tiefe steigen / und in die Tiefe sinken“.
Michael Stavaričʼ lyrisches Plädoyer für die Poesie reiht Negation an Negation, und je mehr von der Poesie ausgesagt wird, wozu sie gar nicht nütze sei, desto deutlicher wird ihre Bedeutung, umso sichtbarer wird ihre Kraft. Als Sprache der Menschlichkeit, der Beziehung, der Liebe und des Schmerzes, der Wahrnehmung des Körpers ebenso wie der Natur.
Michael Stavaričʼ Langgedicht „zu brechen bleibt die See“ (Czernin 2021) trifft mitten ins Nützlichkeitsdenken der Gegenwart und in die allgegenwärtige Sorge um das Klima und über soziale Verwerfungen, die nicht erst nach einem Jahr Pandemie auch Künstlerinnen und Künstler treffen. Der Autor hat Kolleginnen und Kollegen eingeladen, diesem Gedicht etwas beizusteuern, sodass, wie Hanno Millesi auf seiner Webseite schreibt, „wenn auch nicht unbedingt eine Gemeinschaftsarbeit im Sinne eines Kollektivs, so doch ein Text entstanden ist, der unter Berücksichtigung der vom Autor vorgegebenen Spielregeln innerhalb seiner selbst kommentiert und erweitert wurde“. Mitgeschrieben haben neben Millesi auch Isabella Feimer, Katharina J. Ferner, Andrea Grill, Nancy Hünger, Helga Locher, Martin Piekar, Petra Piuk, Helene Proißl, Tanja Raich, Barbara Rieger und Julia Willmann.
Die Lektüre dieses Bandes tut gut, gerade in Zeiten, in denen zunehmend auch der Literaturunterricht der Nützlichkeit untergeordnet werden soll. Freilich, „mit Poesie lässt sich kein Weltuntergang aufhalten / da könntest du noch so viele Aphorismen / Epen oder Sonette schreiben / die Tragödie rauf und runter spielen / nicht mal ein Manifest könnte was daran ändern“. Aber Poesie kann doch „einen Widerpart zu allen Monokulturen“ bilden. Und notfalls kann man „auch am Buchdeckel knabbern / du könntest sogar ein Buch über den Weltuntergang lesen / vielleicht findest du doch noch einen Hinweis darauf / wie sich dein Untergang aufhalten lässt“.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!