Illustration Booklet - © Rainer Messerklinger

Traum, Trauma und Diktatur: Wer erzählt die Seelenlandschaft?

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Hinausgelesen: Ursula Krechels Essay „Die Öffnung einer Grube: vom Träumen in Diktaturen“, der nun auch in ihrem Sammelband „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“ im Verlag Jung und Jung erschienen ist.

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Hinausgelesen: Ursula Krechels Essay „Die Öffnung einer Grube: vom Träumen in Diktaturen“, der nun auch in ihrem Sammelband „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“ im Verlag Jung und Jung erschienen ist.

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In Diktaturen können der Traum und das Trauma, „obwohl sie gänzlich verschiedenen Wortstämmen entspringen“, nahe zusammenrücken und ineinander verwoben sein. Das schreibt Ursula Krechel in ihrem Essay „Die Öffnung einer Grube: vom Träumen in Diktaturen“, der nun in ihrem Sammelband „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“ im Verlag Jung und Jung erschienen ist. Das Buch ist eine wahre Fundgrube an Themen und Denkwegen.

Krechel erzählt unter anderem am Beispiel von Charlotte Beradt und ihrer Traumsammlung „Das Dritte Reich des Traums“, wie Terror nicht nur geträumt wird, sondern die Träume selbst Bestandteil des Terrors werden, wie sich also die Diktatur in die Träume schleicht und die Menschen gefügig macht. Sie erinnert an Milo Dor und Reinhard Federmann, die Freunde und Bekannte baten, ihnen Träume zu erzählen, woraus 1953 der Band „der unterirdische strom“ entstand. „Der Anspruch ihrer gemeinsamen Arbeit war: eine ‚Seelenlandschaft‘ aufzuhellen“, eine Seelenlandschaft, geprägt „von den Traumata der Diktatur, den Folgen des Krieges“.

Krechel zitiert dabei auch Péter Esterházy, der in „Harmonia Cælestis“ die „psychischen Verformungen“, das „Demütigende und Krankmachende“ unter einem diktatorischen Regime festgehalten hat: „Das ist die Diktatur: unwillkürliche Bedrohung und unwillkürliches Bangen, B+B, Bedrohung und Bangen, das ist die Diktatur, aber nicht etwa so, daß die eine Hälfte des Landes die andere bedroht, oder die sogenannten Machthaber alle anderen bedrohen, sondern zu alldem gehört auch noch eine himmelschreiende, fürchterliche Ungewißheit, wer droht, hat auch Angst, wer bedroht wird, droht seinerseits ebenso, die streng abgesteckten Rollen sind bis zum äußersten unsicher, alle bedrohen und alle bangen, wobei es Henker und Opfer gibt, und diese beiden voneinander unterscheidbar sind.“

Was produzieren Träume? Jedenfalls, so Krechel, „keine photographischen Abbilder erlebter, vielleicht verdrängter Szenen. Eher ver-rücken sie Erfahrungen, kleiden sie anders aus, verdichten sie zu neuen Bildern. Insofern sind sie dem Kunstwerk verwandt, das den Künstler auch nicht von einer bestimmten Erfahrung befreit, auch wenn er sich eine andere Zugangsebene erarbeitet: eine Umschreibung, Überschreibung.“

Und was macht Literatur aus? Es ist nicht die „Unterfütterung gesellschaftlicher Prozesse“, so Ursula Krechel, „es ist eher das Ungebändigte, Verstörende, das sich der Angst entgegenstellt. Eben das macht sie in Diktaturen so verdächtig.“

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