Perspektiven - © Wolfgang Schwens

Wieso fehlen immer die Frauen? Kanon Revisited

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Ein Kanon bewahrt Kultur, blendet aber auch aus. Was nicht hineinpasst, fällt heraus. Frauen werden besonders gern vergessen. Ein kritisches Hinterfragen ist daher immer nötig. Ein Gespräch mit Evelyne Polt-Heinzl.

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Ein Kanon bewahrt Kultur, blendet aber auch aus. Was nicht hineinpasst, fällt heraus. Frauen werden besonders gern vergessen. Ein kritisches Hinterfragen ist daher immer nötig. Ein Gespräch mit Evelyne Polt-Heinzl.

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Kritisch hat sich Evelyne Polt-Heinzl den Kanon der österreichischen Literatur angesehen und nach jahrelanger Recherchearbeit drei Revisionen und damit wichtige Entdeckungen vorgelegt: "Ringstraßenzeit und Wiener Moderne", "Österreichische Literatur zwischen den Kriegen" und "Die grauen Jahre. Literatur nach 1945 - Mythen, Legenden, Lügen".

Booklet: Literaturgeschichte wird oft in Kategorien gelehrt. Naturalismus, Neue Sachlichkeit, Avantgarde: Begriffe helfen einzuordnen, aber was nicht hineinpasst, fällt unter den Tisch. Dabei gilt Abweichung oft als Kriterium für gelungene Literatur. Könnte es sein, dass sich also womöglich gerade besonders interessante Werke nicht im Kanon finden?
Evelyne Polt-Heinzl:
Das halte ich für durchaus möglich. Ein gutes Beispiel dafür ist die Literatur um 1900. Sie war lange vergessen, weil die Akteure zu einem großen Teil jüdisch waren, und wurde erst durch große Ausstellungen zum Thema "Wien um 1900" in Italien und Frankreich wiederentdeckt. Die Kategorisierung "Jung Wien" erinnerte in den 70er, 80er Jahren berechtigt an ein vergessenes Epochenphänomen. Aber alles, was sich zeitgleich oder ein bisschen anders mit denselben Themen und Fragen beschäftigt hat, ist nicht mehr vorgekommen, von Saar bis Ebner-Eschenbach.

Booklet: Wenn ich aus einer anderen Zeit, mit anderem Wissen auf etwas schaue und so zu einer Neubewertung komme, müsste sich jede Zeit ihren Kanon neu sortieren. Der literarische Kanon - Beispiel Schulbücher, Leselisten für Universitäten - scheint mir aber sehr beharrend.
Polt-Heinzl:
Eine Revision ist natürlich immer risikobehaftet. Für die österreichische Literatur kommt hinzu, dass die tonangebenden Literaturgeschichten nicht in Österreich geschrieben werden. Manche Epochenkategorisierungen greifen für Österreich nicht. Und ein Teil des Problems ist auch hausgemacht. Den deutschen Kollegen, die Literaturgeschichten geschrieben haben, würde ich nicht unterstellen, dass sie nicht willig gewesen wären nachzuschauen, was die österreichischen Kollegen im Talon haben. Aber die hatten nichts im Talon. Irgendwann hat sich die Übereinkunft herausgebildet, in Österreich habe es keine Neue Sachlichkeit gegeben, wir waren mit dem Habsburger-Mythos beschäftigt. Das hat sich so fortgepflanzt und keiner hat nachgeschaut. Für die 20er Jahre war zudem zentral, dass der Großteil der Vertreter der damaligen Moderne ins Exil gehen musste. So verdienstvoll nun die Arbeiten zur Exilliteratur sind, um auf Namen aufmerksam zu machen, ist es aber auch verhängnisvoll, weil alle diese Namen dann nur mehr unter diesem Etikett Exilliteratur wahrgenommen werden.

Booklet: Wieso fehlen immer die Frauen im Kanon?
Polt-Heinzl:
Welche Optionen hatten Autorinnen, im literarischen Milieu aufzutreten und sich zu verankern? Da gab es kaum ehrenwerte. Da gibt es etwa die "Hysterikerin", so wurden Lasker-Schüler oder Bachmann gern wahrgenommen. Ebner-Eschenbach galt lange als Grande Dame. Eine Grande Dame reißt aber niemanden vom Hocker, ganz anders ein Dandy oder poèt maudit. So eine Option hatten Damen aber nicht im zeitgenössischen Milieu. Viele Frauen um die Jahrhundertwende wie etwa Ebner-Eschenbach oder Rosa Mayreder haben die Scheinmoral und das Aufbrechen der Geschlechterrollen radikaler behandelt als die Herren, aber sie mussten es sprachlich verschleiern. Die feministische Literaturwissenschaft ist nicht ganz unschuldig, sie hat Jahrzehnte lang vor allem geschaut, wo lesbische Beziehungen vorkommen oder wo eine Autorin besonders selbstbewusst mit Erotik umgegangen ist. Das ist auch spannend, aber nur ein Teil der Problematik. Zentraler ist: Wie geht sie an gesellschaftspolitische Fragen heran? Was ist jetzt modern? Wenn ich wie Altenberg viele Bindestriche und Rufzeichen setze oder wenn ich mich für das Frauenwahlrecht einsetze? Was treibt die Gesellschaft weiter? Diese Fragen hat sich die feministische Literaturwissenschaft lange nicht gestellt.

Booklet: Die Literaturwissenschaft schreibt an Mythen mit ...
Polt-Heinzl: Ja, für meine Generation, die in den frühen 80er Jahren mit einem kritischen Blick an den Kanon herangegangen ist, war viele Jahre lang klar, dass die 50er Jahre mit Ausnahme der Wiener Avantgarde eine verzopfte Zeit waren. Was damals an Erzählliteratur entstand, hat uns nicht interessiert. Das war ein Fehler. Wir hatten für die österreichische Literatur keinen Begriff, um zu unterscheiden zwischen dieser alten Tradition von Max Mell bis Rudolf Henz oder Franz Karl Ginzkey, die man wirklich nicht mehr lesen kann und muss, und einer Erzähltradition, die sofort nach 1945 angefangen hat, sich mit Zeitgeschichte auseinanderzusetzen, auch wenn sich bis heute die These hält, vor Hans Lebert und Gerhard Fritsch hätte das niemand getan. Das ist einfach falsch. Ein markantes Beispiel, wie in den 50er Jahren ein Staatspreis einer Autorin schaden konnte, ist Martina Wied, die einen der drei besten Exilromane der österreichischen Literatur geschrieben hat, "Das Krähennest", 1951 erschienen. 1952 bekommt sie den großen Österreichischen Staatspreis von einer reaktionären Kulturelite. Das hat genügt, dass wir später alle zu wissen glaubten, man müsse sie nicht lesen. Ihr Buch wurde bis heute nicht wieder aufgelegt.

Booklet: Wichtig ist also, möglichst frei von solchen Vorsortierungen zu forschen?
Polt-Heinzl:
Eine Gefahr von Kanondebatten sind zu klare Grenzziehungen. Ich finde es interessant, wie spätere Naziautoren in den 20er Jahren im Großstadtdiskurs ziemlich am Punkt waren. Es war damals oft noch nicht geschieden, wer dann wo hingeht. Josef Friedrich Perkonig etwa hat sich auf gar nicht reaktionäre Weise mit Phänomenen der Zeit auseinandergesetzt, ist aber dann einen Weg ganz nach rechts gegangen -andere ins Exil. Diese Erkenntnis finde ich auch für aktuelle Debatten wichtig: Man hat das Gefühl, es scheiden sich gerade wieder die einen von den anderen oder sie werden geschieden oder müssen sich scheiden. Da ist es gut, sich zu erinnern, dass es in solchen Phasen, wo es politisch ins Radikale geht, nicht von Anfang an klar ist, wer wo landen wird.

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