Booklet Cover - © Foto: iStock/BlackJack3D (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Wir müssen uns fragen, wie wir leben wollen

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Hinausgelesen: Brigitte Schwens-Harrant las Peter Roseis Essayband „Ich bin kein Felsen, ich bin ein Fluss“.

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Hinausgelesen: Brigitte Schwens-Harrant las Peter Roseis Essayband „Ich bin kein Felsen, ich bin ein Fluss“.

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Eine Tasse auf dem Tisch im Zimmer, das Fenster, der Himmel draußen und die Straßen rund um die Erde. Der Kopf, die Sonne, das Morgenrot und der Sonnenuntergang und die Jahreszeiten und die zarte Luft und der See hinter dem unendlichen Raum, notiert Giacometti einmal gegen Ende seines Lebens. Er überschreibt diese Notiz mit dem seltsamen Titel: Ich beherrsche die Situation. – Ein schlechter Witz, Selbstbetrug oder ätzende Ironie – oder vielleicht doch einer dieser seltenen Momente, wo alles passt, ein Moment schöpferischen Glücks?

Peter Rosei thematisiert in seinen Essays, die unter dem Titel „Ich bin kein Felsen, ich bin ein Fluss“ im Sonderzahl Verlag erschienen sind, das künstlerische Schaffen ebenso wie die Welt, in der dieses Schaffen stattfindet: die Politik, die Ökonomie, die Wissenschaft. „Wer am Mikroskop weint, wird wenig sehen“, schreibt Rosei und fragt: „Gibt es eine traurige, eine fröhliche, eine heitere Wissenschaft? [...] Kunst arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten – wie die Wissenschaft auch. Was überbrückt denn im Kunstwerk die Löcher zwischen den Sätzen? Was in der Wissenschaft die Leerstellen zwischen einander oft widersprechenden, jedenfalls nicht kompatiblen Konzepten? Die Gewohnheit einerseits, die Trägheit, andererseits aber der Wunsch, die Hoffnung, der Größenwahn – vielleicht aber auch das insgeheime Versprechen an sich selbst: Ich werde wissen.“

Peter Rosei liest Texte von Gerhard Rühm, er erinnert sich an seine toten Freunde H. C. Artmann, Gerhard Amanshauser und Helmut Eisendle: „Wo ist denn der Freund, wenn er fortgeht? Dumme Frage: Nun – er ist fort. Zugleich aber ist er doch hier bei mir, in meinem Herz: und so lange das schlägt, hat die Uhr keine Zeiger.“ Rosei nähert sich Kunstwerken von Herbert Brandl, Anselm Kiefer, Wolfgang Hollegha und seinem Bruder Franz Rosei und fragt nach der Verbindung von bildender und literarischer Kunst: „Die Buchstaben, mit denen der Schriftsteller arbeitet, sind so uneigentlich in Hinsicht auf das Ziel der Anstrengung, wie die Pinselstriche des Malers, die Bleistiftstriche des Zeichners. Wie weit ist es doch von den Buchstaben zu den Worten, von den Worten zu den Dingen!“

„Empört Euch! – ein tolles Programm. Fragt sich nur, wogegen wir uns empören sollen?“, überlegt Rosei an anderer Stelle. „Natürlich kann jede Gesellschaft versuchen, angetrieben von der diffusen Empörung einer unbestimmten Zahl ihrer Mitglieder, alle Möglichkeiten des Gesetzes gegen Fehlentwicklung und Missbrauch zu mobilisieren. [...] Wir müssen uns, richtig verstanden, auch gegen uns selbst empören, was so viel heißen will: Wir müssen unsere Lage überdenken. Wir müssen uns klar zu machen suchen, wie die Dinge liegen. Wir müssen uns fragen, wie wir leben wollen, in welcher Gesellschaft und in welcher Welt?“

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