Selbstbefreiung - © Illustration: Michèle Ganser

Wissensreise in die Tiefsee: "Faszination Krake" von Michael Stavarič und Michèle Ganser

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Ein faszinierendes, kluges und schönes Sachbuch .

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Ein faszinierendes, kluges und schönes Sachbuch .

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Le grand bleu: In seinem Film aus dem Jahr 1988 setzt der französische Regisseur Luc Besson auf suggestive, monochrome Bilder. Er nimmt seine Zuseher und Zuseherinnen mit hinein in das faszinierende Blau des Meeres und lässt sie gebannt der symbiotischen Beziehung eines Apnoe-Tauchers zu Delfinen beiwohnen.

Michèle Gansers Bilder des Ozeans wirken wie ein Kontrapunkt zu diesem unendlichen Blau. Und dennoch setzt sie nur auf eine andere Variante der (Farb-)Suggestion, wenn sie in ihrer schwarzweißen Weltall-Tiefsee einen Taucher auf einen Kra­­ken treffen lässt: Eine textlose Doppelseite lässt die beiden in der Weite des Wassers schweben – einander gegenübergestellt, wesensfremd, fern und doch über die Faszination des Menschen für die Krake miteinander verbunden.

Innerhalb des boomenden kinder- und jugendliterarischen Sachbuchbereichs, der (auch) auf knallig-farbintensive Einblicke in Ozeane oder lichteffektreiche Blicke ins Weltall setzt, bilden Michèle Gansers Illustrationen eine ungewöhnliche Ausnahme. An die Bildsprache Einar Turkowskis erinnernd, schafft Ganser ein illustratorisches Hybrid aus Weltall und Tiefsee, in dessen Zentrum der Krake positioniert und dafür effektvoll mit goldfarbenen Tiefseemonden unterlegt wird. Jenseits von pinkifiziertem Buch-Glitzer entsteht so die Vorstellung einer „unbekannten Welt“, wie es im Untertitel des Buches heißt. Die beinahe geometrisch anmutende Genauigkeit der Tier- und Pflanzenwelt der Tiefsee wird dabei in einem nicht verorteten Schwebezustand belassen, der die unendlichen Weiten von Welt und Weltall miteinander verbindet.

Dieserart bilden die Illustrationen eine Konstante. Der Text hingegen nähert sich aus großer Ferne dem eigentlichen Sach-Gegenstand (der Krake) an – und nimmt dabei immer wieder kleinere oder größere Abzweigungen. Humorvoll und dynamisch wendet sich Michael Stavarič an seine kindlichen Leserinnen und Leser. Er tritt als Autor nicht hinter die Präsentation des Sachwissens zurück, sondern setzt auf die unterschiedlichen Mittel und Möglichkeiten der Fiktion. Er wählt ein erzählendes Ich, das sich selbst, seine Weltsicht und Erfahrungen gleichermaßen mit einbringt wie sein Medienwissen und sein Interesse an Sprache und Sprachvariationen. Mehrmals wird zum Beispiel der Wortstamm „krak“ erprobt. Die Wortexempel reichen dabei von der Krakelei bis zum Kräcker und von der Datenkracke (einem Schlagwort aus der politischen Diskussion rund um den Datenschutz) bis hin zu Kathleen M. Krak, einer amerikanischen Rechtsanwältin, die sicher nie davon erfahren wird, dass ihr klingender Name Eingang in ein österreichisches Sachbuch gefunden hat.

Gegliedert ist der Band – wie könnte es in einem Sachbuch über Oktopoden anders sein – in acht Kapitel. Denn ausgehend von den Tentakeln der Kopffüßler wird die Zahl 8 als eine Art strukturierendes Leitmotiv etabliert: Von persönlichen Lieblingskrakenarten des Ich-Erzählers über bionische Übertragungen von Naturerscheinungen auf menschliche Geräte bis hin zu den Tieren, die am längsten schlafen, wird stets die 8 genutzt, um Beispiele zu geben, Witziges zu sammeln oder Listen zu erstellen. Dabei führt das durchdacht grafische Konzept von Michèle Ganser dazu, dass Erzähltext, Infoblöcke, Schautafeln und Wort-Exkurse ebenso ansprechend wie übersichtlich miteinander verknüpft werden. Satz und Layout lassen den einzelnen Text- und Bild­elementen viel Luft und vermitteln gerade dadurch den Eindruck, es mit einer illustrierten Erzählung zu tun zu haben.

Und dennoch handelt es sich um ein Sachbuch: Immer näher rückt Michael Stavarič an die Kraken heran, blickt ihnen letztlich tief ins Auge und erkundet die naturwissenschaftlichen Markierungen dieser vielgliedrigen Tierwesen ebenso wie deren Persönlichkeit. Bis er im letzten Kapitel die Perspektive wechselt und einen Kraken aus unruhigen Träumen erwachen und bemerken lässt, dass er sich in einen Menschen verwandelt hat. Diese fiktionale Variation des Themas wird mit einem leicht begreifbaren Metadiskurs über Wissensvermittlung verknüpft: Was tun mit all dem Wissen, das je Kapitel sogar mit großzügig ins Layout gesetzten Informationsblöcken für Schlauköpfe angereichert wird, die immer noch mehr wissen wollen?

Nun, Wissen kann sich fortpflanzen. Geteilt werden. Oder spielerisch an jenen Such-Bildern erprobt werden, die über das Buch verteilt sind. Der Auflösung am Ende wird als Fleißaufgabe ein Kraken zum Ausschneiden hinzugefügt – den man dann mit hinein nehmen kann in die eigenen unendlichen Weiten der Vorstellungskraft und des Wissenshungers.

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