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Brecht in Wien

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Das ist also Brecht in Wien. Sein Ensemble spielt das Drama des unglücklichen Lenz „Der Hofmeister“ in der Scala. Nichts fremder dem Wiener Publikum, der Wiener Atmosphäre, als das Milieu dieses Stückes, als dieses Theater. Schon deshalb sehenswert für uns: angesichts des Drill, des Exerzierreglements, aber auch der echten inneren Durchformung dieser Schauspieler aus dem Geist eines mächtigen, unerbittlichen Gesetzgebers, laufen unsere Schauspieler über die Wiener Bühne wie verirrte Schafe.

Der Augsburger Pastorensohn Brecht verabscheut, fürchtet und klebt an dem Gesetz. Es ist das Gesetz eines alten Bundes, die Grausamkeit einer alten Welt, einer Gesellschaft der „Väter“, die den in die Gefilde der Freiheit und Liebe fliehenden Sohn einfängt, züchtigt Und zerbricht. Vergebens floh Lenz, der Revaler Pastorensohn, nach Straßburg, in die Nähe Frankreichs, in die Nähe des jungen Goethe. Die dunklen Götter seiner nordischen Heimat verfolgen ihn, hetzen den Jüngling im Übermaß ihrer Forderungen in den Wahnsinn. Ein Stück dieses seines Lebens hat er einzu-fangen gesucht in seinem „Hofmeister“; auch dieser ist ein Pastorensohn, der von den ost-elbischen Junkern zerbrochen wird, bis er sich selbst entmannt, um, eine Moluske ohne Rückgrat, in die Seligkeit der Knechte, bedingungslos dienend, eingehen zu können. Dieses Drama des unglücklichen Lenz — wer liest heute noch die großartige Novelle Büchners? — reißt Brecht an sich, füllt es an mit Sentenzen und Lehrsprüchen und hämmert, stanzt es aus zum Schaubild einer Welt ohne Gnade. Hochbeachtlich seine Umformungen; er läßt den jungen Hofmeister nicht nur an der Tyrannei der Junker, Majore und Schulmeister zerbrechen, sondern an — Kant. Es ist der Rigorismus des kategorischen Imperativs, der Kantschen Ethik, deren strenge Dualismen tatsächlich Jünglingen, wie Schiller und Kleist, so viel zu schaffen gemacht haben. Es ist eine puritanisch düstere Zerklüftung der Welt in „Fleisch“ und „Geist“, „Vernunft“ und „Gefühl“, Wille und Ohnmacht, unerfüllbares Gesetz und unendliche Schwäche des Menschen, die als Unstern, als Fatum über diesem Halle, diesem Insterburg hängt. — Eine Anmerkung für Studenten und jene, die an der inneren Geschichte Deutschlands Anteil nehmen: Brecht gelingt es, in einigen Sätzen, einigen Szenen mehr zu zeigen von der inneren Situation dieser deutschen Jugend zwischen „Halle und Jerusalem“ (wie später Gutzkow sagen wird), zwischen Sturm und Drang und Romantik, Aufklärung und Absolutismus als dicke Kompendien deutscher Literaturgeschichte und etliche Semester germanistischer Vorlesungen. Mit Nachdruck sei darauf verwiesen: Hier wird etwas sichtbar vom Kern einer der größten inneren deutschen Tragödien — wie eine Jugend des späten 18. Jahrhundert scheitert, weil der Gesetzesgott, der diktatorische Geist, die Ideale, die ihr vorgestellt werden, sie überfordern. Die spätere Flucht in Mythen und Märchen, in Romantik und Biedermeier, in Lyrismen und ichverliebte seelische Spielereien aller Art, genau so wie in einen öden, primitiven „Materialismus“ wird hier im Ansatzpunkt klar. Uberanstrengt durch die Forderungen der Väter, des Gesetzes und seiner grausamen irdischen Inkarnationen, gelingt es der jungen Generation in diesem Deutschland nicht, das westliche Geistesgut der Aufklärung selbständig und echt aufzuarbeiten und das alte karolingische Gut eines christlichen Humanismus aus seiner barocken Verkleidung zu lösen und sich dergestalt einen echten, weltanschaulichen Eigenstand vor Gott und Welt in einer neuen Gesellschaft zu bauen. Goethe, der Ringende, Einsame, Große, kommt für diese Generation bereits zu spät. Brecht geht es natürlich nicht um geistesgeschichtliche Exegesen. Er will hart und dürr ein Exempel statuieren: Seht, so hat man zu allen Zeiten den deutschen Schulmeister, den deutschen Intellektuellen mit allen Hunden gehetzt, entmannt, zur Unterwerfung unter die diktatorischen Forderungen eines Regimes gezwungen. Und das ist allerdings ein beachtlicher Vorwurf: für seine Gegenwart.

Ein glänzende Ensembleleistung.

Das Akademietheater bringt ein englisches Familiendrama: „Schwarze Seide“ von Lesley Storm, übersetzt und bearbeitet von Josef Glücksmann. Psychoanalyse der Mutterliebe. Die vornehme, gepflegte Dame Alicia Christie erliegt nach fünfundzwanzig Jahren unglücklicher Ehe, zerrissen zwischen Mann und Sohn, dem seelischen Druck und begeht, um 6ich und die Familie aus diesem Konflikt zu lösen, einen Diebstahl in einem Warenhaus. Anwalt und Seelenarzt wollen die Verteidigung auf einer Analyse ihres Seelenlebens aufbauen. Alicia wehrt sich gegen diese Aufdeckung der intimsten Verhältnisse ihres Familienlebens im Gerichtssaal; auf der Bühne kann sie es allerdings nicht hindern, da sonst das Stück nicht geschrieben wäre. Im Gerichtssaal aber hat sie Erfolg. Nachdem sie ihre Verteidiger zum Schweigen verdammt hat, bekennt sie sich schuldig und erhält drei Monate Kerker. In dieser Zeit, hofft sie, werden Vater und Sohn sich versöhnen ... Ein Stück, thematisch voll von Widersprüchen und Unwahrscheinlich-keiten. Seine Hauptthese — die Familie ist das größte Schlachtfeld der Geschichte — wird immerhin durch die hervorragende Leistung von Helene Thimig und Ernst Deutsch glaubwürdig illustriert. Das Publikum konnte sich mit dem Stoff nicht recht befreunden; es hatte wohl auch Heiteres erwartet.

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