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Brief an eine Braut

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„Sie werden sich erinnern, meine Schöne, wenn die Gäste des Hochzeitsmahles verschwunden sind und Sie allein mit Ihrem Gatten zurückbleiben — nicht wahr? Sie werden sich vielleicht erinnern an jenen geheimnisvollen Gast, der das Hochzeitsgewand nicht anhatte und der in das Reich der äußeren Schatten geworfen wurde.

Das Weinen und Zähneknirschen des Elenden war so stark, daß man es durch die Mauern hindurch hörte und daß die bronzebeschlagenen Pforten in ihren Angeln erzitterten, als ob ein mächtiger Sturmwind sie erschüttert hätte...

Sie wissen nicht, wie jener Mensch war, und ich weiß es wahrhaftig ebensowenig wie Sie. Mir schien jedoch, als ob seine Klage die Erde erfüllte. Eine Minute lang, ich schwöre es Ihnen, eine bestimmte Minute lang, habe ich gedacht, es sei das Stöhnen aller Gefangenen, aller Ausgeschlossenen, aller Verlassenen, denn das ist die notwendige Ergänzung zur Freude einer Gattin. Die menschliche Rasse ist so sehr zum Leid bestimmt, daß das Geschenk, eine Stunde lang glücklich zu sein, mit dem Todesschrei einer ganzen Welt nicht zu teuer bezahlt ist.

Und nun nimmt dein Herr, bebend und bleich vor Begierde, dich in die Anne. Irgend etwas unendlich Süßes, ich vermute es wenigstens, erfüllt sich nun.

Werfen Sie einen letzten Blick auf die Wanduhr, und wenn Sie es können, flehen Sie zu Gott, daß er den düstern Engel der Statistik von Ihnen fernhält... Eine Minute ist soeben verronnen. Das bedeutet ungefähr hundert Tote und hundert Neugeborene mehr. Hundert Schreie und hundert letzte Seufzer. Die Rechnung stimmt seit langem. Die Rechnung ist genau. Es ist der Ausgleidi im Gewimmel der Menschheit. In einer Stunde häufen sich sechstausend Leichen und sechstausend kleine Kinder, um Sie herum werden sie weinen, am Boden oder in Wiegen.

Aber das bedeutet nichts. Noch gibt es die unendliche Menge derer, die nicht mehr geboren zu werden brauchen und die noch nicht genug gelitten haben, um zu sterben. Da sind noch die, die man bei lebendigem Leib schindet, in Stücke schneidet, langsam verbrennt, ans Kreuz schlägt, auspeitscht, vierteilt, mit Zangen zwickt, spießt, erschlägt oder erwürgt. In Asien, Afrika, Amerika, Ozeanien, ohne von unserem herrlichen Europa zu reden, in den Wäldern, Höhlen, in den Gefängnissen und den Hospitälern der ganzen Welt...

In demselben Moment, in dem Sie vor Lust stöhnen, schreien Bettlägerige oder zum Tode Verurteilte, deren Zahl fest- “ zustellen ein kindliches Unterfangen wäre, schreien sie in der Hölle unter dem Stachel Ihrer Sünden. Sie verstehen mich recht: Ihrer Sünden! Denn gerade das wissen Sie sicher nicht, liebliches Phantom.

Jedes lebende, nach Gottes Ebenbild geschaffene Geschöpf besitzt eine ihm unbekannte Schar von Anhängern, denen gegenüber es gleichzeitig Gläubiger und Schuldner ist. Wenn dieser Mensch leidet, so bezahlt er damit die Schuld einer großen Anzahl von Menschen, aber wenn er Genuß empfindet in seinem sündigen Fleisch, so müssen unweigerlich die andern seine Schuld bezahlen'.

Und wären Sie selbst ein Idiot, was ich mich zu glauben weigere, so sind Sie dennoch ein so kostbares Geschöpf, daß es vielleicht ganz gerecht ist, wenn der Schmerz von zehntausend Herzen herhalten muß, um Ihnen diese Stunde zu schenken. Herzen von Vätern, von Müttern, Herzen von Waisen, Herzen von Unterdrückten und Verfolgten. Zerrissene, durchbohrte, zermalmte Herzen. Herzen, die in der Verzweiflung hinabfallen wie Mühlsteine in einen Abgrund. Und das alles nur um Ihretwillen. Ihr Jubel ist um diesen Preis erkauft.

Ohne daß Sie es wissen, arbeitet eine Armee von Sklaven für Sie im Schatten, wie jene Verdammten, die auf dem Grunde der schwarzen Gruben Belgiens oder Englands den Boden aufwühlen. Sehen Sie: dort liegt einer auf dem Rücken — wie Sie im gleichen Augenblick —, aber nicht in Spitzentücher gehüllt, sondern im Schlamm! Hat Ihr Herr Vater ein so ausschweifendes Leben geführt, daß dieser arme Wurm vielleicht einer Ihrer Brüder ist? Wer weiß? Er hackt über seinem Kopfe einen jener dunklen und einträglichen Edelsteine los, die Ihren Alkoven so sanft erwärmen. Ein Block Steinkohle ist auf ihn gestürzt und schon steht seine Seele vor Gott! Seine arme, blinde Seele! Dieser Augenblick, gestehe ich, wäre nicht glücklich gewählt, um ein De Profundis aufzusagen.

Ich würde wahrscheinlich wenig Gehör finden, wenn ich von der unsichtbaren Welt zu Ihnen spräche, der gewaltigen, schweigenden und ungreifbaren Welt, die ohne Zärtlichkeiten und ohne Küsse ist.

Die interessiert vielleicht ein paar Kartäusermönche, die beten, oder ein paar Sterbende, aber es ist zum mindesten überflüssig, zwei Christenmenschen daran zu erinnern, deren Verdauung gut ist und die sich mit Lust durchdringen.

.Miseremini mei! Miseremini meil Saltem vos, amici mei...' Ah, sie können schreien, die Verblichenen, die leiden, die Hingerichteten, für die niemand betet. Ihr ungeheurer Lärm, der die Tabernakel des Himmels erschüttert, vibriert in unserer Atmosphäre weniger als die Flügelschläge einer Mücke oder einer Spinne, die ihr Netz webt...

O schöne Stunde! Schöne Hochzeits-nacht! Und wie lenkt sie die Gedanken auf die Vermählung des Endes aller Enden, wenn nach dem Verblassen aller Welten und Tage das Lamm Gottes, mit

Purpur bekleidet, vor die unvorstellbare Gemahlin treten wird!

Ich weiß wohl, Sie wollen sagen, daß das Leben unmöglich wäre, wenn man fortgesetzt an alle diese Dinge dächte, daß keine einzige Minute mehr übrig bliebe für das Glück. Ich sage nicht nein. Es hängt davon ab, was Sie Glück nennen.

Das Sakrament gibt Ihnen die Erlaubnis, Ihren Gatten zu genießen, das ist mir nicht unbekannt, und es wäre eine verwegene Behauptung, daß der Akt, durch den Sie vielleicht einen Sohn empfangen, für die Gestaltung der Welten gleichgültig sei.

Ich behaupte nichts, Erbin der Ewigkeit, ich will Ihnen nur eine Vorstellung geben, wie die Stunde aussieht, die vergeht. Die Stunde, die vergeht. Sehen Sie den Zug von sechzig zarten Minuten, mit den erzenen Absätzen, deren jeder die Erde zermalmt... Die Andacht Ihres Hochzeltsgemaches — wissen Sie, wodurch sie entstanden ist? Ich will es Ihnen sagen. Sie ist aus mehreren Milliarden Klageschreien entstanden, die so wunderbar gleichzeitig in jeder Sekunde zusammenklingen, daß sie sich völlig aufheben und das un-erforschliche Schweigen ergeben.

Mit anderen Worten: es ist die Gelegenheit, die unaufhörlich sich erneuernde Gelegenheit für den Erlöser, der ewig am Kreuze hängt, sein ,Lamma Sabacthani' auszustoßen, das alles Stöhnen, alle Verzweiflung, alle menschliche Angst zusammenfaßt und in sich vereinigt und das, aus der Tiefe seiner Unerschütterlichkeit, die keinen Anfang und kein Ende hat, allein Unser Vater, der im Himmel ist, vernehmen kann.“

Aus dem Roman „Clotilde Marödial“, Kompaß-Verlag, Basel.

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