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Brief an einen Österreicher

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Dr. Friedrich Wallisch, mit den Ehrentiteln eines Professors wie auch eines Generalkonsuls ausgezeichnet, seit 1954 Präsident des Schutzverbandes der Österreichischen Schriftsteller, wird zu seinem 70. Geburtstag am 31. Mai im Mittelpunkt zahlreicher Ehrungen und Freundschaftskundgebungen stehen. — Der einer egerländischen Familie Entstammende, zu Weißkirchen Geborene und in Wien Aufgewachsene ist Vollbürger der altösterreichischen größeren Heimat auch nach dem Untergang der Monarchie geblieben. Seine Reisen und Studienfahrten verbanden ihn besonders mit dem Südost- und dem Mittelmeerraum. In seinem literarischen Werk aber hat er in nie ermüdendem Arbeitseifer und umfassender Weltoffenheit, die sich mit der Liebe zum Wort und zum Detail paarten, an jenem geistigen Großösterreich, das das Erbe des für immer vergangenen politischen übernommen hat, weitergebaut, dem auch die „Furche“ nicht zuletzt dienen will. Der verehrungsvolle Geburtstagsgruß gilt also nicht nur dem anerkannten Meister, sondern auch dem Kollegen und Gesinnungsfreund.

Lieber verehrter Freund 1

Die Rede, die Sie gestern hielten, berührte mich ungemein, so sehr, daß ich mich, einem inneren Gebote folgend, entschließen mußte, manche dringende Arbeit beiseite zu legen, um mit gesammelten Gedanken Ihre Ausführungen in mir nachklingen zu lassen und Ihnen nun zu schreiben.

Sie sprachen über die Reichsidee, die von der einstigen Hauptstadt des weit ausgreifenden großen Staates, von Wien also, bis zu den fernen Grenzen hinstrahlte. Auf Ihre warme, kluge Art gedachten Sie der Menschen, die dort irgendwo in den entlegenen Gebieten des einstigen Staates geboren waren, dort die Heimat ihrer Jugend' besaßen vmt -dtrirr'dwi Wedistf-fällen der vergangenen Jahrzehnte ihren Wohnsitz freiwillig oder unter Drucke oder auch unter einem unerbittlichen Zwange aufgaben und als Träger der deutschen Sprache in der räumlichen Enge des Österreich von heute eine neue Heimat fanden. Sie begriffen, verehrter Freund, daß diese Menschen immer noch Heimweh nach der verlorenen Stätte ihrer Kindheit und Jugend empfänden. Sie betonten mit gutem Grunde unser aller Bewunderung: Wie tapfer und erfolgreich hatten sich jene Geflohenen oder Vertriebenen zurechtgefunden, wie mustergültig sich in ihre Umwelt eingeordnet, wie wertvoll wurde ihre Arbeit für die neue Heimat!

Es geht hier nach meiner Ansicht um eine Frage, die nicht nur für unser eigenes Land Österreich gilt, sondern mit geringen Abwandlungen ungefähr ebenso auch für Westdeutschland, und zeitgemäß bleibt, solange die Menschen leben, die jenen schweren Weg gegangen sind. In gewissem Sinne wird dieses Problem sogar noch länger Geltung haben, es wird die in der österreichischen Republik und in Deutschland geborenen Nachkommen auf ferne Sicht hin bewegen.

Sie hatten recht, verehrter Freund, als Sie betonten, die Idee des einstigen Großstaates Österreich reiche auch heute weiter als die um vieles verengten Grenzen. Die nationale Duldsamkeit, die sich in dem alten Reiche verkörpert hat, ist eilt Prinzip von höchster politischer Sittlichkeit. Das ersprießliche Zusammenleben mehrerer Völker in der Umfriedung eines einzigen staatlichen Gebildes war so etwas wie ein Wirklichkeit gewordenes Ideal. Und dies steht fest, auch wenn man sich an manches Störende und Hemmende erinnert, das sich nun einmal aus den Umständen ergeben hat. Gerade die Reibungen, von denen wir wissen, haben mit ihrer Überwindung den Wert der einstigen Einheit bewiesen.

Sie sprachen in Ihrer Rede von der österreichisch-ungarischen Monarchie. Das ist eine richtige Bezeichnung, wenn man, wie Sie es getan haben, Geschichtliches ungefähr aus dem letzten Jahrhundert darstellen will. Aber fühlten Sie nicht den inneren Widerspruch, in den Sie sich mit diesem Namen des Staates verirren mußten? Kann man sich einen peinlicheren Gegensatz denken als den zwischen dem alten

Öster-Reich und dem Madjarenstaate, der 1867 im Rahmen der Habsburgermonarchie entstanden ist? Auf der einen Seite Österreich, dessen Sinn und Bestand aus dem uneingeschränkt freien nationalen Leben seiner Völker kam, auf der anderen Seite Ungarn, ein Nationalstaat, den die madjarische Minderheit allein verkörpern wollte. Ich glaube nicht, in den Verdacht zu geraten, den rückschauenden Propheten spielen zu wollen, wenn ich sage, der nationalistische Staat der ungarischen Stephanskrone seit dem sogenannten Ausgleich von 1867 sei das tödliche Geschwür im Leibe Österreichs gewesen. Dies sei an sich kein Vorwurf gegen jene Madjaren von einst, die die Überzeugung vertreten haben, auf ihre Art ihrem Staate zu dienen. Aber die aus dem Kaisertum Österreich entstandene „Doppelmonarchie“ Österreich-Ungarn litt tödlich an ihrem inneren Widerspruch.

Deshalb schon, lieber, verehrter Freund, begaben Sie sich auf schwankenden Boden, als Sie, wenn auch historisch mit Recht, in Ihrer Rede von der österreichisch-ungarischen Monarchie sprachen. Die Idee der altösterreichischen Völkerfamilie mag in ihrem Nachhall noch fühlbar sein, niemals aber eine österreichischungarische Idee.

Allein wie sieht es um den Nachhall des Einstigen aus? Sie halten das Gewesene für so sehr lebendig oder lebensfähig, daß es als eine Art Realität weiterbestehen und deshalb imstande sein könnte, die alte Form wiederzugewinnen. Sie wiesen auf Nationen hin, deren Wille zur eigenen Staatlichkeit in Jahrhunderten des Schweigens wachgeblieben war, und nannten als Beispiel das serbische Volk, das nach der Schlacht auf dem Amselfelde ausgelöscht schien und dennoch rund fünfhundert Jahre später wiedererstand. Ist dieser Vergleich mit dem alten Österreich zutreffend? Wir wollen heute weniger denn je ein Übergewicht des rein Nationalen anerkennen; aber Sie haben sich mit Ihrem Beispiel auf einen nationalen Körper berufen, auf eine physische Persönlichkeit also. Wie könnte hier ein Vergleich mit dem alten Österreich gültig sein?

Sie wissen, verehrter Freund, daß Metternich, und bis ] 866/67 Franz Joseph, in ihren Wünschen und in ihrer Politik an der Herrschaft Wiens über Deutschland festgehalten haben. Und ich zitiere mit allem Vorbehalt den merkwürdigen Ausspruch eines sehr beachtlichen Mannes unserer Generation: „Das Kaisertum Österreich war eine Verlegeriheitslösung.“

Auch hier also, wenngleich im Negativen, der Hinweis auf das Römische Reich der Kaiser aus deutschem Stamme, das 1806 aufgelöst worden ist, nachdem sein letzter Herrscher zwei Jahre vorher den Titel eines Kaisers von Österreich angenommen hat. Damit konnte die Pax Romana, der römische Friede, seit Seneca der Begriff des von innerer Ruhe gesegneten Herrschaftsbereiches der abendländischen Kultur, das Prinzip Österreich bleiben und blieb es bis — bis 1848 oder 1866 oder 1867 oder 1918?

Kein Zweifel, die Idee des Imperiums, des übernationalen Reiches, die ich weiter oben einem Wirklichkeit gewordenen Ideal gleichsetzte, sie lebte in einer vollkommenen Symbiose mit dem monarchischen System. Trotzdem lag es nicht im Sinne Ihres Vortrages, sich mit dieser oder jener Staatsform auseinanderzusetzen. Ja, man hätte bei Ihren Worten an das Vereinigte Europa denken können, um dessen Entstehen heute Fachleute der Politik und der Wirtschaft mit ebenso emsigen wie armseligen Bemühungen am Werke sind. Der Österreicher stellt dies mit Bedauern fest, zugleich mit einem verstohlenen Lächeln der Schadenfreude.

Ich mußte mich eben Ihrem Versuche widersetzen, einen Vergleich zwischen der Stärke der altösterreichischen Idee und der Beharrungskraft eines nationalen Körpers anzustellen.

Wäre es nicht besser am Platze, den versunkenen ' Großstaat mit einem Baume zu vergleichen? Mit einem Baume, aus zwei Keimen gezeugt, dem Imperium Romanum und der habs-burgischen Hausmacht. Und eben daraus wuchs er organisch auf. Er wurde zuletzt mit den Wurzeln ausgerissen. Er liegt nun leblos vor uns.

Die Blüten, die er trägt, duften noch immer. Doch muß ihr Duft allmählich zunichte werden.

Ich darf darauf verweisen, wie sehr ich in meinen Büchern das alte Österreich bejahe. Aber — erlauben Sie mir noch einen Vergleich, der mir aus dem Herzen kommt. Ich stehe jenem Reiche so gegenüber wie meinen toten Eltern und Großeltern:

Ich sehe vor mir auf dem Schreibtisch und an der Wand ihre Bilder. Ich blicke ihnen ins geliebte Antlitz. Ich rede stumm mit ihnen. Ich verspreche ihnen, in ihrem Sinne zu leben, so gut ich's in diesen gründlich veränderten Zeitläufen vermag.

Ich liebe meine Eltern und Großeltern. Aber ich weiß, daß sie auf dieser Erde nie, nie wieder ins Leben zurückkehren werden.

Eb enso verhält es sich mit dem österreichischen Staate von einst. Wir Österreicher können und sollen innerlich an dem Vergangenen festhalten, die Ausstrahlungen seiner sittlichen Kraft auf uns und auf die Jüngeren einwirken lassen, jedoch immer in der Erkenntnis: Dies alles versinkt. Wir dürfen hier an keine Wiederauferstehung glauben. Das Überlieferte wird im Bewußtsein der Menschen allmählich absterben, so wie die noch immer duftenden Blüten an dem niedergeworfenen Baume, so wie meine Gefühle für die Toten, eine Liebe, die zwar so lange lebt wie ich, aber nicht länger.

Unterscheiden wir doch zwischen Realität und Pietät.

Dienen Sie, lieber, verehrter Freund, der Pietät, seien Sie auf diesem Wege meines Mitgehens gewiß, und empfangen Sie die besten Grüße von Ihrem ganz ergebenen

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