6744550-1967_02_10.jpg
Digital In Arbeit

BRIEF EINES VATERS

Werbung
Werbung
Werbung

„Meine liebe Tochter!

Ehe wir uns dessen recht versehen haben, ist die Zeit gekommen, da Du aus dem behüteten Garten Deiner Kindheit herausgetreten bist, um nun im Kreise der Erwachsenen Dein eigenes Maß zu finden. Das ist eine Zeit des Hochgefühls und der Niedergeschlagenheit zugleich, die einander abwechseln wie Sonnenschein und Regen in der Natur. Ihre Köstlichkeit und Bedeutung liegt darin, daß sie unverwechselbar und unwiderbringlich ist. Es ist daher der Wunsch Deines Vaters, Du möchtest sie recht nutzen und verstehen. So habe ich mich in die Stille meines Arbeitszimmers zurückgezogen, um auf das zu lauschen, was in mir lebendig ist. Vielleicht, daß manches davon auch für Dich taugen mag, um Dir Deinen Weg ins Leben zu erhellen und recht eigentlich sichtbar zu machen. Denn darauf, meine liebe Tochter, wird es nun in diesen Jahren des Übergangs, da Du der Kindheit entwächst und die Sicherheit, aber auch die Endgültigkeit des Erwachsenenseins noch nicht gewonnen hast, vor allem ankommen: daß Du zu Dir selbst findest. Mach Dir das nicht zu leicht! Alles, was uns kampflos zufällt, ist eine leichte Frucht, die der Wind vom Baum gerissen hat und die schnell verdirbt. Nur was wir in ehrlichem, hartem Kampf gewinnen, lohnt es uns auch durch ein Stückchen der köstlichen Reife, die unser Leben erst reich und voll und lebenswert macht. Daran denke manchmal, wenn Dir schlechte Ratgeber den Weg des mühelosen Erfolges weisen möchten. Schärfe Dein Gewissen, daß es unbestechlich bleibe zu jeder Stunde Deines Lebens, um Dich immer Deiner eigentlichen Bestimmung zu erhalten: wahrhaftig Mensch zu sein!

Als Deine Mutter Dich erwartete, war Krieg. Damals lebte sie in der Weite der Ebene, jener Landschaft unserer Heimat, die sich so viel von ihrer Ursprünglichkeit und Einsamkeit bewahrt hat. Ich wünsche Dir, es möchte etwas von der Stille und der herben Kraft dieses Landes in Dich hineinströmen, denn es ist gut, wenn Du Stille in Dir trägst, damit Du dem Lauten um Dich herum daraus begegnen kannst.

Zu jener Zeit liebte Deine Mutter weite Spaziergänge. Gottes Himmel blickte auf sie herab, Seine Sonne, die in jenen Tagen von einer fast schmerzlichen Lust am Verschwenden ihres Glanzes war, grüßte sie. Da gehörtest Du Deiner Mutter am innigsten, und sie hielt ihre erste Zwiesprache mit Dir.

Mit dem Augenblick Deiner Geburt begannst Du, ein eigenes Wesen zu werden. Du bist nun immer noch dabei, dieses Eigene, in Dir auszubilden. Ich kann Dir nichts Schöneres wünschen als dieses: Du mögest immer auf der Suche bleiben, nie mit dem Erreichten zufrieden und dennoch in der Demut, die allen Menschen eigen ist, die sich einzuordnen wissen in den Kreis des Lebens.

Als wir Dir Deinen Namen gaben, tasteten wir uns an Dein Schicksal heran und griffen darin ein. Daß wir es in Bescheidenheit und “ohne Eigenliebe getan haben, war unser Wunsch damals und sei es auch heute noch, da ich dieses Ereignis hier bedenke und für Dich wieder aufleuchten lasse. Die Kirche war zerstört und die Kammer war nur eng, in der wir zur Feier Deines kleinen Lebens zusammenkamen. Die Dunkelheit der Nacht stand am Fenster Wache und die Sterne des Himmels leuchteten ihr dabei. Kerzen, kostbar allein schon dadurch, daß sie zu der Zeit so selten waren, gaben dieser Stunde eine besondere Weihe. Die damals gesprochenen Worte standen unter der Last des Kriegsschicksals, das Deine Familie besonders hart getroffen hatte. Sie suchten aber auch den Hintergrund zu erhellen und Dir Richtzeichen für Deinen Schritt ins Leben zu geben.

Kurze Zeit darauf drangen fremde Panzer in das Dorf Deiner ersten Kindheit. Sie zerschossen seine Häuser, vernichteten das Leben Unschuldiger und ließen Deine Angehörigen eine Weile in quälender Angst um Dein und ihr eigenes nacktes Leben, bevor eine neue Ordnung einzog. Die Natur aber entfaltete in jenem Frühling ihre unbefangenste Lieblichkeit, als habe es niemals Tod und Verderben gegeben. Der Hunger begleitete Deine nächsten Lebensjahre. Die Sorge um Dich grub Deiner Mutter in die weichen Züge ihres noch fast mädchenhaften Gesichtes die ersten harten Linien ein Sie mußte die Hauptlast der Verantwortung für Dich tragen, denn Dein Vater lebte als Gefangener in einem stacheldraht-umsäumten Lager, das die schweren Soldaten bewachten. Ei konnte ihr in ihrem schweren Kampf um die Notdurft des Lebens nicht beistehen. Jene Jahre des Alleinseins waren schmerzlich für Deinen Vater, aber sie waren nicht umsonst. Vieles von dem, was wir Dir mit ins Leben geben durften, reifte in den vielen einsamen Stunden inmitten der Tausende, die dicht zusammengedrängt im Lager dahindämmer-ten. Da hat Dein Vater mit sich selbst gerungen, um sich der Wahrhaftigkeit seines eigenen Weges bewußt zu werden und die Leuchtzeichen darüber nicht zu verlieren. Er hat aber auch gelernt, daß es immer nur auf die Wenigen ankommt, die den Mut haben, uns mit unbestechlichen Augen zu sehen und uns Freunde zu sein. Freundschaft ist eine seltene, edle Blume. Wir müssen sie hüten und pflegen. Aber sie ist es auch wert. In jenen Tagen haben wir alle, Ihr in der Ärmlichkeit und Enge Eures Lebens in einer fremden Kammer und wir in unserer Unfreiheit und dem zweifachen Hunger, dem nach Brot und dem nach Freiheit, etwas davon erfahren.

Ich schreibe Dir dieses hier nieder, damit eine Ahnung davon in Dir lebendig bleibe. Denn ich meine, wir sollten uns immer wieder auf die kleinen Dinge besinnen, die so häufig die großen Entscheidungen ausmachen. Denn es ist doch wohl so, daß die großen Dinge, die aus den Zeiten herausleuchten, nur immer wieder die Summe all der kleinen sind, die wir in unserem Leben erfahren und mit denen wir es zu unserem Segen oder unserem Fluch — gleichviel — zu tun haben.

Ich danke Dir für alles, was Du uns bisher gewesen bist, und wünsche Dir einen guten Weg.

Dein Vater.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung