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Brot, Spiele, Hunger

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Reiche Ernten des frühen, eben begonnenen Jahres: die Abfallkörbe am Straßenrand quellen über von weggeworfenen Lebensmitteln. In den Körben eines Wiener Parks, den die Schulkinder morgens und mittags durchqueren, sammeln sich, oft in häuslicher Originalpackung, die Frühstückspakete der Kinder, dazu Obst, Äpfel und Orangen, unberührt. In der Pause bewerfen sich Knaben mit Geschossen: mit den Früchten, die sie von daheim mitgebracht haben. In Wiens größtem öffentlichem Bad, im Dianabad, unterhalten sich in der Heißluftkammer einige korpulente Herren über den Unfug der Sternsinger, die um Epiphanie 1961 durch Wiens Straßen zogen und, leider, wie die Herren meinen, auch im Radio zu hören waren: Was hat das da für einen Sinn, für Indiens hungernde Kinder m Österreich zu sammeln? „Das ist nur ein Tropfen auf einen heißen Stein“, sagen sie, während ihnen in dicken Strömen der Schweiß des Wirtschaftswunderkonsums aus allen Poren bricht.

Statistiken, die von Jahr zu Jahr veröffentlicht werden, lassen anschauliche Vergleiche zu: wie viele hunderttausend Menschen in den von Hunger erfüllten Weiten Asiens von dem Abfall dieser und jener mittel-

europäischen Stadt im Monat ernährt werden könnten.

Die Bischöfe bitten von den Kanzeln, machen auf das jährliche Verhungern von 30 Millionen Menschen aufmerksam. Die österreichische Weihnachtsseelsorgertagung 1960 hat sich auch mit dem Hunger in der Welt befaßt. Es fehlt nicht an guten und löblichen publizistischen Hinweisen hier und dort, in der Presse und Revuewelt. Alle guten Worte scheinen jedoch abzugleiten und wie ein Tropfen in ein Meer von Gleichgültigkeit zu fallen.

Hat es Sinn, die Kinder, die Eltern und die dicken Männer im Dampfbad anzuklagen? Dies ist eine harte Tatsache: Noch nie haben Moralpredigten und Warnrufe von Sittenaposteln eine faulende Gesellschaft zu reformieren vermocht. Nur eine Änderung des Lebens, in all seinen Verhältnissen, konnte, wenn sie gelang, mit der tieferliegenden Krankheit auch diese ihre äußeren Symptome beseitigen. Die Berge von Brot, von Lebensmitteln, die dem Verderb übergeben werden, sind ja „nur“ ein Symptom, ein Mal der großen Krankheit, in die unsere Wohlstandsgesellschaft hineingeschlittert ist. Ihr Prinzip ist: von der Hand in den Mund, möglichst schneller Verzehr, Konsum; was nicht mehr paßt, was nicht liegt, wird weggeworfen, wird abgelegt. Das Prinzip des schnellen Verbrauchs, der Vergeudung, wird zum Gott des Tages erhoben. Alte Kleider, im Schnitt des vergangenen Jahres? Weg mit ihnen. Ein Wagen, Modell 1958? Fort mit ihm. Ein alter Film? Ein altes Buch? Uninteressant.

Uninteressant. So grotesk es für Menschen, die innerlich nicht unserem Verzehrprinzip verfallen sind, erscheinen mag: die meisten Menschen wollen, wenn sie Bücher schenken oder für sich kaufen (als Lektüre für die Sommerreise) nur „Neuerscheinungen“, möglichst aus den letzten Monaten,

kaufen. Die Lebensmittelgeschäfte, die „Delikatessen“händler — nicht nur im Musterländle unserer Wirtschaftswunderwelt, in der Bundesrepublik Deutschland — müssen sich bemühen, aus immer ferneren, exotischeren Län-

dern exquisite Leckerbissen herbeizuschaffen. Nicht zuletzt aus China. Ja, von dort, wo der große Hunger zu Hause ist.

Warum sollen da die Lebensmittel eine Ausnahme machen? Was nicht mehr gefällt, fort mit ihm in den riesigen Abfallkübel. Es kann sein, daß dieser zum Grabhügel unserer Zivilisation wird. Zum Aschengrab des weißen Mannes, der vergessen hat, daß die Menschenrechte, die er politisch in alle Welt hinausposaunt hat, Menschenpflicht fordern: und also seine Lebensmittel und Konsummittel nicht dem Zerfall, sondern dem Mitmenschen zu übergeben. „Unser tägliches Brot gib uns heute“: es könnte sein, daß die Weltrevolution unter dieser Bitte des Vaterunsers über uns Gericht halten wird. Über uns alle: Kinder und Eltern, Politiker und die Manager des großen Geschäfts, über Christen und Nichtchristen. Brote klagen uns an. Brot, Konsumgüter, Luxusspiele in Österreich, im Angesicht des Hungers in dieser Welt.

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