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Bubenbotanik

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Meine erste Blumen- und Kräuterwissenschaft stammt von der Mutter. Kein Samstag verging, daß sie nicht die großen Porzellanvasen auf der Waschkommode im Schlafzimmer füllte: mit veilchenblauen Glockenblumen und trübgelbem Fingerhut, mit blutrotem Weiderich und gelbgesternter Lysimachie, im Herbst mit den grünen Wedeln des Wurmfarns und im blumenlosen Winter mit den blaubereiften Zweigen der Douglasfichte. Für jede Krankheit, die einen in der Familie anfiel, gab es ein Tränklein aus selbstgepflückten und getrockneten Pflanzenteilen, nach den schönen Kräutertafeln von Losch gesammelt und bestimmt: Kamille und Quendel, Pfefferminz und Steinbrech, Arnika, Wiesenknopf und Brunnenkresse. So ward hier schon der Grund gelegt zu einer Neigung, ehe noch das Reich des Bübleins über den kühlen schattigen Hof mit einer mailichen Löwenzahnwiese hinausreichte.

Der erste Lehrer, der sich meiner annahm, ging mit mir hinaus in den Wald. Bis dahin hatte es Naturkunde nur in der Schulstube und nach dem Lesebuch gegeben: „Der -Wald“, „Das Feld“, „Die Wiese“ als Umriß bäuerlich-nützlicher Lebensgemeinschaften, deren verzahntes Ineinander und Füreinander uns ewig verborgen blieb. Nun streckten wir uns auf den Waldboden, den Kopf in die dünnen festen, aus Sand und Kies einzeln aufschießenden Gräser gebettet, und sahen in die Bläue zwischen den Baumwipfeln, wo zwei Bussarde kreisten und schrien. Der Lehrer ließ furchtlos die Waldameisen über seine großen braunen Hände laufen und erzählte von ihrem Leben. Und unter dem Wiegen der Baumkronen, dem Schwirren der rotgeflügelten Schnarrheuschrecken und dem Gekringel der Sonnenstrahlen auf den Waldboden nahm leise der Schlummer Lehrer und Schüler an der Hand und führte sie in ein Land, wo ewiger Bubensommer blüht und reift.

Mein zweiter Lehrer betrieb die Botanik mit Systematik. Wie er alles sammelte, von Zeitschriftenbildern bis zu Briefmarken, Steinen und Schmetterlingen, betreute er auch dickleibige Herbarien voll gepreßter Pflanzen, in die ich ab und zü beim Einordnen neuer Funde hineinschauen durfte. Ich muß gestehen, daß mir die sauber geschriebenen Etiketten mit ihren lateinischen Namen, mit Fundort und -zeit mehr Eindruck machten als die gleichmäßig graugrün eingefärbten Pflanzen, die sich mühsam mit Klebestreifen auf den Papierbogen aufrechthielten und so gar nichts von jener Leuchtkraft und geschwisterlichen Beglückung an sich hatten, die ich an den Lebenden kannte. Aber von hier aus lernte ich die Flora eines begrenzten Gebietes zu durchforschen, ihren Artenreichtum und jahreszeitlichen Wechsel zu erkennen. Wieviel Pflanzen entdeckte ich doch, die ich zuvor nur im Buche gesehen und von denen ich nie geglaubt, daß sie bei uns wüchsen. Und siehe, war einmal ein solches Gewächs gefunden und als Seltenheit bestaunt, so fand es sich, nachdem der Blick die eigentümliche Gestalt erfaßt und aus der Vielheit, zu unterscheiden gelernt hatte, daß es an vielen Orten und manchmal in großer Zahl wuchs und blühte und Ausläufer und Samen trieb. So die erste buchsblätterige Kreuzblume am Preißelbeer-hang der „Alten Kürche“, das Engelsüß in den Granitgärten der Steinselb, die Büschel der Frühlingsheide in den Porphyrklüften des Eichelbergs, Pfeilkraut und Froschlöffel in den Teichen hinter der alten Ziegelhütte. Es war geradeso wie mit den Hüten der Steinpilze, die, sanft gebräunt wie ein angerauchter Meerschaumkopf oder von tiefdunklem , Braun wie alter Tabak, auch immer in

Menge auftauchten, sobald man sie einmal vom Waldboden unterscheiden gelernt hatte.

Vom frühen Frühling, da die ersten Hungerblümchen an eben schneefreien Stellen siedelten, bis in den späten Herbst, der silbergraue, schwarz gespren-gelte Pappelblätter im Graben zuhauf trieb, galten nun meine Streifzüge der Flora unserer Heimat. Beim Futterholen für die Hauskaninchen, im Walde bei der Holzarbeit, bei den oft stundenweiten Gängen über Land zur Kirche, zu Besorgungen, zu Jahrmärkten und Kirchweihfesten, auf dem Wege zur Schule erlebte ich immer wieder Wunder über Wunder. Wie sich im Frühling aus dem starren spitzdornigen Holz des Schlehdorns plötzlich über Nacht eine schimmernde Blütenpracht aufbaute, von zartem Grün der Kelchblätter warm untermalt, wie das tiefe Blau des Günsels sich dem fetten Grün des jungen Grases beimengte, wie sich die hängenden Trauben der Ulmenfrüchte neigten oder die dicken, glänzenden Knospen der Fetthenne durch sandiges Erdreich zwängten, war immer wieder Anlaß zu oft hellem Entzücken, oft stillem, ehrfürchtigem Bewundern. Eine Sehnsucht, in das innerste Geheimnis eines Baumes vorzudringen, zu schauen, wie die Säfte auf- und niedersteigen, wie sich Zelle u Zelle fügt, wie sich nach Holz und Splint und Bast die Rinde.bildet, wie das grüne wehend Leben der Zweige und Blätter wird und vergeht, ergriff mich, davon mich alle spätere Entzauberung durch gelehrte Botanik nicht zu befreien vermochte. Welche Geheimnisse barg doch die schemenhafte, unter zitterndem Wasserspiegel ins Geisterhafte verdämmernden Algenwelt der Teichböden, ehe sie im Herbst, wenn das Wasser abgelassen wurde, zu wesenlosem ungestaltetem Schleim zusammenfiel. Welcher Abenteuer mußte eine Schlammschnecke gewärtig sein, in jenen Märchentiefen oder der blitzende Taumelkäfer, der mit dem Funkeln der Sonnenstrahlen wetteiferte. Welche Zauberkräfte waren am Werk, daß nach einer warmen Regennacht tausend feuer-goldne Arnikablüten sich auf der Waldwiese wiegten, wo vorher nur ein Gräser- und Distelmeer gewesen war. Was bedeutet der geisterbleiche Spuk des Fichtenspargels im Waldesdüster und der Goldfunke des Leuchtmooses in den Felsklüften? Welche Botanik könnte eine Vorstellung geben von einer licht-überflirrten Waldwiese mit den zarten Rispen der rundblättrigen Glockenblume, den gnomenhaften Ähren der Rapunzel, schwül überhaucht vom Duft der Stendel-wurz?

Ich habe viele Pflanzen heimgetragen, deren Bestimmung an Ort und Stelle nicht möglich war. Und ich habe auch viele Gewächse heimgetragen einfach an der Freude an ihrem Bau, den Formen ihrer Blätter und Stengel, der Farbe oder dem Duft ihrer Blüten, an ihrer Seltenheit oder Absonderlichkeit. Aber ich habe es nach schüchternen Versuchen, die gleichwohl mit Sachkenntnis überwacht und mit Sorgfalt ausgeführt waren, sehr rasch aufgegeben, Pflanzen zu pressen und so aufzubewahren. Mir schien die einzelne Pflanze, losgelöst von ihrem Standort, herausgerissen aus der Vielzahl ihrer Geschwister, Neider und Befehder, dem Himmel und dem Spiel der Winde entrückt, keine Beziehung mehr zu haben zu dem Lebewesen, das sie einst war. Ich habe bis heute keine Reue über dieses Versäumnis empfunden. Die Stöße der Bogen, die dickleibigen verschnürten Folianten hätten Bombennächte, feuchte Wohnungen, begieriges Mäusevolk und oftmaligen Wechsel des Wohnortes gewiß nicht überstanden. Die Erinnerung an meine Bubenbotanik aber ist so frisch, als stünde ich noch barfuß in leichtem Höslein draußen im Tau der frühsommerlichen Wiesen.

Ein Maitag war es. Ich mag damals vielleicht elf Jahre alt gewesen sein. Es war einer jener Tage, wie sie auch der Frühling nur selten schenkt. Von einem blauen wolkenlosen Himmel strahlte warm die goldene Sonne. Der Wald leuchtete im frischen Grün der Zweigspitzen. In den Wiesen quoll das Wasser der Bäche und Tümpel in Uberfülle um Buschwindröschen und Scharbodeskraut,

Schaumkraut und Vergißmeinnicht, die alle gleichzeitig blühten. In solcher Stunde des Ganymed begab sich eines jener Blumenwunder, die mir unvergeßlich sind. Auf sanfter Bodenschwelle erhoben sich ein paar hochstämmige Erlen. Zu ihren Füßen blühte, aus irgendeinem Garten des nahen Dorfes samenverweht, eine einzelne weiße Narzisse. Inmitten der prangenden Fülle einfacher und bescheidener Wiesenblumen, von der Schlichtheit und Kindlichkeit eines Claudius-Liedes oder eines Lesebuchverses von Hölty, hob sich der weiße, im Blütengrunde rot erglühende Stern auf schlankem Stiel wie eine Märchenfee unter Dörfkindern aus Gras und Kraut in die Himmelsbläue. Ich war auf diese himmlische Erscheinung nicht gefaßt. Ich stand nur und wagte nicht zu atmen, voll Angst, es könne sich um ein Trugbild handeln. Wenn ich ein Dichter gewesen wäre, hätte ich sicher lieh die Hymne gefunden, dieses Erlebnis würdig zu preisen. So preßte ich nur die Hand aufs Herz, weinte langsam große und helle Bubentränen. Dann ging ich zögernd heim, Schwermut im Herzen, wie immer, wenn Schönheit mir begegnet und mir ihre Vergänglichkeit bewußt wird.

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