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Bücherboom um Prager Frühling

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GESPRÄCH AN DER MOLDAU. Von Antonin J. Li ehm. Verlag Fritz Molden, Wien- München-Zürich. 352 Selten. S 108.—. SCHICKSALSTAGE EINER NATION. Von Klaus Otto Skibovkl. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien. 215 Seiten und 32 Seiten Abbildungen. DM 8.-. CSSR IM UMBRUCH. Herausgegeben von Leopold Grünwald. Europa-Verlag, Wien-Frankfurt- Zürich. 160 Seiten. S 62.—. MIT BLOSSEN HÄNDEN. Von Erich B e r 11 e f t. 224 Selten und 16 Bildseiten. S 6.—. VIVA DUBCEK. Von Christian Schmidt-Häuer und Adolf Müller. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin. 191 Seiten.

DM 7.80.

Weder der Überfall auf die Tschechoslowakei noch ihre dauernde Besetzung vollzogen und vollziehen sich jenseits einer „Mauer”, als eine „innere Angelegenheit” des sozialistischen Lagers, wie es die Panzerkommunisten und ihre Helfer gewollt hätten. Fast vom ersten Augenblick an war Prag, war die Tschechoslowakei „allgegenwärtig”, füllte eine nicht zu hemmende Informationsflut Fernsehen, Rundfunk und Presse. Was da geschah, vollzog sich inmitten, im Herzen Europas, störte nicht nur die Nachbarländer auf, sondern berührte politische und militärische Interessen bis zum Atlantik; so nachhaltig, daß erst vor einiger Zeit Amerikas Außenminister die Sowjetunion vor weiteren Übergriffen warnte und dabei unter den möglichen Angriffsobjek- ten sogar das neutrale Österreich erwähnte. Der Informationsflut folgte alsbald die Dokumentations- welle; zu Dutzenden erstanden Augenzeugen und Kommentatoren der Ereignisse in der Tschechoslowakei. Dem Marktbedürfnis entsprechend, setzte ein wahrer Verlegerwettlauf ein, Autoren brüsteten sich mit der Rekordzeit, Innerhalb welcher sie dais Manuskript abliefern konnten, und die unter Zeitdruck stehenden Übersetzer vermochten noch mehr sinnstörende, orthographische und grammatikalische Fehler unterzubringen. Mit flinken Zusammenstellungen aus Meldungen und Artikeln der Augusttage, mit Chronologien des Prager Tauwetters und der nachfolgenden Eiszeit wären wir nun reichlich versorgt.

Antonin J. Liehms „Gespräch an der Moldau” hebt sich ganz entschieden aus den vielen Zufallspublikationen heraus. Am Beginn steht die Grundfrage, wie es eigentlich dazu gekommen ist, daß die Intellektuellen, die künstlerische Intelligenz im besonderen oder die Kultur insgesamt (keinem anderen Land vergleichbar), die Entwicklung so sehr mitbeeinflußt hat. In der Antwort umreißt Liehm eine ganze gesellschaftliche Entwicklungsphase von den vergangenen Jahrhunderten bis zum Sturz des Regimes Novotny. Gleichzeitig bietet er eine ebenso eindringliche wie schonungslose Selbstanalyse (seiner Person wie seiner Generation, Jahrgang 1924), wobei er sich gegenüber fiktiven Vorwürfen der Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen von heute verteidigt. Nicht nur, indem er seitenlang einige seiner in den „Literärni Noviny” erschienenen grundlegenden Artikel oder vor einem Massen- publikum gehaltene Reden im vollen Wortlaut wiedergibt, sondern auch, indem er die .ganze Beschränktheit und Unsinnigkeit des herrschenden Systems” auf dem Hintergrund der durch die erstaunlichen Erfolge der tschechoslowakischen Kultur in den letzten Jahren bestimmten Kulturpolitik demonstriert.

Liehm sieht das größte Verbrechen des Regimes Novotny — eines Regimes „der ewigen Verdächtigungen, der steten Angst um die Macht, der Furcht vor dem Neuen… der tschechischen Kleinlichkeit und Stubenhockerei, der Feigheit unü Flegelhaftigkeit” — darin, daß es die Schaffung einer neuen Alternative zu dem Bestehenden unmöglich gemacht hat. Indem es alle dazu fähigen schöpferischen Kräfte zwang, sich ganz auf die Beseitigung des Regimes und die Entmachtung seiner Repräsentanten einzustellen, fehlte, nachdem dies gelungen war, jede neue fertige Konzeption. „Das Land suchte, tappte, wußte nichts”, höchstens eines, „daß es kein fertiges Muster einer Demokratie gibt, weder im Osten, dessen Tradition, Geschichte und geistige Welt in vielem so grundverschieden von unseren sind, noch im Westen, von dessen ökonomischer Ordnung wir uns endgültig getrennt haben”. Aber es ist schwer für ein Land, „Demokratie zu lernen”, in dem es schon seit 30 Jahren keinen normalen Informa- tionskreislauf, keine öffentliche Meinung gegeben hat, in dem Presse, Rundfunk und Fernsehen nur der „Verschleierung der Wirklichkeit” dienten und nicht einmal der Regierung umfassende Informationen zur Verfügung standen. Liehms desillusionierende Folgerung (welche die an sich guten Absichten der Reformer um Dubcek genauso trifft wie die rührigen Beobachter und Beurteiler der letzten Entwicklungen) lautet: „Deshalb glaube ich keinem, der heute großspurig behauptet, er wisse, was dieses Land denkt, wie es ist, was es will und wie sein politischer Mechanismus geregelt wenden muß.” Es gibt heute in der Tschechoslowakei (und noch weniger außerhalb) „keinen Menschen, der sich hinsetzen, sich mit .Material” eindek- ken… und eine halbwegs zutreffende Analyse anfertigen könnte. Denn das nötige Material existiert nicht”.

Für Liehm war es nun das Gespräch, die Begegnung mit verschiedenen Menschen und ihren Erfahrungen, aus dem er die Methode der Analyse entwickelte. Sein Buch umfaßt denn auch neben seinem umfangreichen Essay „Uber Kultur, Politik, die jüngste Geschichte, die Generationen” ęjj Gespräche mit Schriftstellern, Politikern und Philosophen, meist Angehörigen der jüngeren Generation, darunter die namhaften Epiker Milan Kundera (Der Schenz), Ludvik Vaculik (Das Beil), die Dramatiker Vaclav Havel und Ivan Klima, deren brillante und agressive Reden auf dem legendären IV. Schriftstellerkongreß im Juni 1967 sich zu einer der Triebkräfte des Reformprozesses entwickelt hatten. Erstaunlich viele neue Ideen und bisher unbekannte Perspektiven werden in den Gesprächen zu Beginn des Sommers 1968 von den ihre geistige und moralische Existenz reflektierenden Schriftstellern und Denkern aufgezeigt, erstaunlich vide aktuelle Probleme neben Fragen des literarischen Schaffens berührt. Die in dem Sammelband enthaltene Fülle zukunftsweisender Gedanken hat nach der jüngsten Katastrophe nur zu Bedeutung zugenommen. Um einige Proben zu geben, sei etwa der Hinweis Prof. Goldstückers auf zwei kleine Absätze in den Fragmenten zu Masaryks „Tschechische Frage” angeführt, wo im wesentlichen gesagt wird: „Wir stehen von den Toten auf, und die Welt erwartet von uns das Wort des Erlösers. Wenn wir ihr dieses Wort nicht sagen, wendet sie sich von uns ab, und wir wenden zum Trittbrett anderer Völker.” Das Wort des Erlösers aber ist .die Kunst, den Menschen in der Welt zu sagen, was wir aus unseren überreichen Erfahrungen gelernt haben, aus anderen, als es die Erfahrungen der übrigen Völker sind”.

Bei den folgenden Publikationen — Reportagen, Augenzeugenbenich- ten, Dokumentation — konnte es nicht ausbleiben, daß sich dieselben Texte im selben Wortlaut wiederholen, wie etwa: die berühmten „2000 Worte” von Ludvik Vaculik, das Aktionsprogramm der KPC, der Warschauer Brief der Fünf, die Antwort aus Prag u. a. K. O. Skibovskis „Schicksalstage einer Nation” bringt chronologisch, ohne Kommentar, aus Originalquellen und Rundfunkberichten Vorgeschichte und Verlauf der Krise. Besonders eindrucksvoll der Bildteil. — In L. Grünwalds „CSSR im Umbruch” ergänzt eine knappe, aber recht informative Dokumentarauswahl die Darstellung in kommunistischer Sicht. — Erich Bertleffs „Mit bloßen Händen” schildert, meist auf Grund fremder Augenzeugenberichte, den Verlauf der Ereignisse. Ein wenig störend wirkt der Feuilletonstil. Auch sollte man endlich einmal „den braven Soldaten Schwejk” ruhen lassen und ihn nicht noch zum „General” befördern. — Chr. Schmidt-Häuer, Korrespondent des „Spiegel”, schildert in „Viva Duböek” aus eigener Anschauung sowie Gesprächen mit führenden Politikern, teils aus zweiter Hand die Entwicklung vom Schriftstellerkongreß bis zur Invasion. Der beste Teil ist „Die Analyse” von Adolf Müller (Pseudonym für einen tschechischen Politologen) mit der pessimistischen Prophezeiung: „Der Weg zwischen den Abgründen der Kollaboration und dem offenen Zusammenstoß mit den Okkupanten wird ungeheuer schmal und kompliziert sein.”

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