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Opferpsychologie

Marianne Strauß entkam als junge Frau geistesgegenwärtig der Verhaftung durch die Nazis und überlebte als Einzige ihrer Familie. Die 66-Jährige gab Mark Roseman (siehe auch: "Diabolischer Moment") Teile ihrer Lebensgeschichte preis. Nach ihrem plötzlichen Tod stellte sich heraus, dass ihre Lebensgeschichte nicht einmal dem Sohn bekannt, andererseits aber ihr Haus in London mit Dokumenten vollgestopft war. Roseman ging jeder Einzelheit nach. So entstand nicht nur einer der eindrucksvollsten jüdischen Überlebensberichte, sondern eine exemplarische Studie über Opferpsychologie, selektive Erinnerung und Umformung des Erlebten im Laufe der Zeit, die emotionale Beziehung vieler Juden zu Deutschland und nicht zuletzt auch über die bisher noch nicht gründlich erforschte Rettung von Juden durch die antinazistisch gesinnten Chefs der Spionageabwehr der deutschen Wehrmacht, Admiral Wilhelm Canaris und Major Hans Oster.

IN EINEM UNBEWACHTEN AUGENBLICK. Von Mark Roseman. Aufbau-Verlag, Berlin 2002. 584 Seiten, geb., e 25,70

Zwischen den Welten

Über den Prozess gegen die japanischen Kriegsverbrecher in Tokio weiß man hier zu Lande viel weniger als über sein Nürnberger Vorbild. Schon gar nicht, dass ein Wiener das Dokumentenzentrum leitete und Teile der Anklage verlas. Der junge Anwalt Kurt Steiner war damals gerade vier Jahre amerikanischer Staatsbürger, hatte sich vom Eisverkäufer zum Leiter einer Berlitzschule hinaufgearbeitet, war nach einem mörderischen Japanisch-Intensivkurs nach Tokio geschickt worden und hatte dort zufällig in einem Park einen Mann getroffen, der zufällig wusste, dass Steiner in Wien Rechtsanwalt gewesen war. Später wurde er in Stanford einer der größten Förderer Österreichs in den USA. Elisabeth Welzig entlockte ihm eine Lebensgeschichte voll harter Arbeit, Tatkraft und glücklicher Zufälle und eine besonders romantische Liebesgeschichte - ein wunderbares Buch!

ZWISCHEN DEN WELTEN. Von Elisabeth Welzig und Ernst Kilian. Mandelbaum Verlag, Wien 2002. 176 Seiten, kt., e 19,50

Diabolischer Moment

Warum kamen am 20. Jänner 1942 15 Staatssekretäre und andere Nazi-Wichtigkeiten in der berüchtigten Villa am Wannsee zusammen? Sicher ist nur: Nicht, um die "Endlösung" zu beschließen. Die Massenmorde waren längst in Gang und die versammelten Herren waren für eine solche Entscheidung auch nicht wichtig genug. Der britische Historiker Mark Roseman (siehe auch: "Opferpsychologie") stellt in einem schmalen Buch "Die Wannsee-Konferenz" dar und entwickelt die einleuchtende These, dass Reinhard Heydrich Klartext redete, um die zivilen Ministerien zu Komplizen des Verbrechens zu machen und den Primat des Reichssicherheitshauptamtes klarzustellen. Die Herren radikalisierten sich im Lauf des Gesprächs, auch in der "Mischlings- und Sterilisierungsfrage". Heydrich zeigte sich abends am Kamin über den Erfolg sehr zufrieden und bat auch seinen Unterläufel Eichmann zu einer Zigarre und einem Glas Cognac "oder zwei oder drei".

Hellmut Butterweck

DIE WANNSEE-KONFERENZ. Von Mark Rosenman. Propyläen Verlag, Berlin 2002. 222 Seiten, geb., e 19,60

Mit Grieser durch Wien

Mit seinem 30. Buch "Weltreise durch Wien" ist Dietmar Grieser wieder ein Wurf gelungen. Unnachahmlich stimmt er auf eine Entdeckungsreise ein, die nicht in die Ferne schweift, wie viele seiner früheren. Sieht er doch nach dem 11. September eine Abkehr von "Maßlosigkeit, ja Größenwahn" und meint frei nach Goethe: "Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah."

Die schöne Jahreszeit in Wiens Mauern mit ihren Geheimnissen und Begegnungen zu verbringen, wird bei Grieser zur Versuchung. Haben es doch dem Wiener viele Berühmtheiten vorgelebt, deren Spuren man jetzt, Griesers Buch in der Hand, auf verschlungenen Pfaden folgen kann. Warum kam der weltberühmte Mark Twain mit Gattin und drei Töchtern ausgerechnet in die Donaumetropole, um hier für 20 Monate seine Zelte aufzuschlagen? Unvorhersehbar war für den glühenden Verehrer der Kaiserin Elisabeth deren grausamer Tod. Er sah dann mit den Seinen aus den Fenstern des Nobelhotels Krantz am Neuen Markt dem Trauerzug zur Kapuzinergruft zu.

Grieser beschreibt dramatische Ereignisse aller Zeiten, etwa die Ermordung des Grafen Stürgk durch Friedrich Adler, den Sohn des Arbeiterführers Viktor Adler. Zum Tode verurteilt und begnadigt, beschloss er sein Leben fern von Wien, in Zürich. Wien war aber auch Magnet für ausländische Wissenschaftler, die, heute vergessen, von Grieser aus verschütteten Quellen wieder zu Tage gefördert wurden. Etwa der russische Ophthalmologe Lazar Ludovik Zamenhof, der Erfinder der Kunstsprache Esperanto. Jahre später konnte er noch den Triumph der Gründung eines Österreichischen Esperantistenverbandes miterleben. Wien war aber auch die letzte Zuflucht für Kardinal József Mindszenty, der hier zu-tiefst enttäuscht starb. Wien war Sprungbrett großer Karrieren, zwei von ihnen, Marlene Dietrich und Johnny Weissmüller, verdankten Wien letztlich einen Teil ihrer späteren glanzvollen Erfolge. "Weltreise durch Wien" ist ein literarischer Fremdenführer voll überraschender Effekte.

Chris Stadtlaender

WELTREISE DURCH WIEN.

Von Dietmar Grieser

Niederösterreichisches Pressehaus, Sankt Pölten 2002. 252 Seiten, geb., e 20,60

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