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Bürger zweier Welten

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Der Nestor der franzosischen Schriftsteller ist nicht mehr. Geboren 1885, war er der letzte Vertreter jener Generation von Dichtern und Denkern um die Jahrhundertwende, Zeitgenosse von R. Martin du Gard, J. Giraudoux, J. Cocteau, G. Duhamel und G. Bernanos. Er war ein paar Jahre jünger als Gide, Colette, Valery, Barres, Proust, Peguy, Claudel, und ein paar Jahre älter als Malraux, Camus, Sa,rtre oder St. Exupery. Mitten in dieser außerordentlichen Pleiade der französischen Literatur und Geistigkeit hat Mauriac jede Wende, jede Krise der kulturellen und religiösen Geschichte seines Landes von 1900 bis zu unseren Tagen miterlebt. Er hat den letzten Glanz des ausgehenden Naturalismus der Epigonen von Zola gekannt, war Zeuge der geistigen Fruchtbarkeit des Symbolismus und des Wagnerismus, der scheinbaren Sterilität der „belle epoque“, in deren Mitte der „renouveau catholique“ heimlich aufkeimte. Er stand unerschrocken dem turbulenten Ausbruch des Surrealismus gegenüber, sah später das Heranreifen der Existenz-Philosophie und deren nicht immer erquicklichen Niederschlag in der Literatur durch den Sartreschen Existentialismus. Schließlich erlebte er in seinen letzten Jahren das Vordringen des Absurdismus in das Theater und in den Roman, das Entstehen und rasche Verblühen des „nouveau roman“, der „A-Literatur“ und zuguterletzt das Streben des philosophischen und literarischen Strukturalismus.

In einer anderen Perspektive — aber während derselben Periode der Geistesgeschichte — war Mauriac Zeuge der Erschütterung und Auflösung der sozialen Denkschemata und Kategorien, die seiner Kindheit und Jugend eine gewisse, aber bereits unruhige Geborgenheit gewährt hatten, — der langsamen aber unwiderruflichen Zersetzung der Familien- und Provinzstrukturen, die wohl seine Denk- und Gefühlswelt geprägt, die Freiheit seines Urteils aber nicht beeinträchtigt hatten.

Eine ähnliche Komplexität kennzeichnet Mauriacs christlich-religiösen Werdegang: ebenso wie Martin du Gart vom Modernismus erschüttert, später vom christlichen Ideal der demokratischen Bewegung des „Sillon“ von Marc Sangnier angezogen, wurde der reife Mauriac, gleich einem Claudel, zwischen der als notwendig und fruchtbringend empfundenen Zwangsjacke seines Glaubens und der ungestillten Sehnsucht seines leidenschaftlichen und schmerzhaften Herzens gepeinigt. Er wurde unablässig mit dem Mysterium des Bösen konfrontiert: er versuchte nicht, rein spekulativ den Abgrund zu erforschen, aber alle seine Romane und Theaterstücke bezeugen, daß er in den Abgründen des menschlichen Wesens, und besonders der Liebe und der Frau, die unlösbare Problematik der menschlichen Freiheit und der Vorsehung erkannt hat.

Ein ungemein feinbesaiteter Lyriker, war Mauriac, ebenso wie M. de Guerin, der junge Claudel oder noch Camus, der Dichter der ,,Hochzeit des Lichtes“, von der Schönheit des Kosmos fasziniert, die er in einem „prägnanten“ orphischen Rausch, viel mehr noch als Gide in seinen „Nourri-tures terrestres“, besungen hat. Er konnte nur schwer auf Kybele verzichten, um das christliche Kreuz zu umarmen. Denn er war ein geborener Künstler, dem das Leiden widerstrebte und der im Dichten das Recht der Kreatur sah, die Diesseitigkeit zu verherrlichen.

Ziemlich spät entdeckte Mauriac die bezaubernde Magie der Musik: in ihr, und besonders in Mozart, dessen Kunst er in Salzburg 1936/37 mit Begeisterung kennenlernte, glaubte er eine geistige und religiöse Erlösung zu finden.

In der abgeklärten Entrücktheit des Klarinettenquintetts oder in der souveränen Beherrschung der dämonischen Kräfte des Bösen in Mozarts „Don Giovanni“ wollte er zum „verlorenen Paradies“ der ursprünglichen Unversehrtheit zurückfinden und, viel mehr als Proust mit seinem wagnerschen Wunschtraum, die „verlorene Zeit“ zurückerobern. Er mußte schließlich einsehen, daß eben in der Unerreichbarkeit die einzige mögliche Vollendung des „homo viator“ liegt.

Mit dieser existentiellen, tief religiösen Weisheit sind aber die Facetten von Mauriacs geistiger Persönlichkeit bei weitem nicht erschöpft. Denn er war auch ein engagierter Bürger in der Welt seiner Zeit: mit Maritain und Bernanos, und gegen Maurras und Claudel, ergriff er öffentlich Partei für die spanischen Republikaner und gegen jede Diktatur. Er war konsequenterweise ein Gegner des braunen Totali-tarismus, ein aktives Mitglied der Resistance, und sein „Cahier Noir“ fand denselben Anklang wie „Das Schweigen des Meeres“ von Vercors im verborgenen Frankreich von 1941—44. In seinen letzten Jahren hat sich bekanntlich der greise Kämpfer zum Anwalt und Verfechter des Gaullismus gemacht und in den Fußstapfen eines Ch. Peguy, dessen geistiger Sohn er war, einen echten, offenen und hellsichtigen Patriotismus vertreten, dem die Schwächen und Illusionen der „grande nation“ nicht unbekannt waren.

Es ist hier nicht am Platz, andere Aspekte des polymorphen Mauriac zu analysieren: man kennt zur Genüge die unnachahmliche Originalität des Epikers und des Stilisten, den Scharfsinn des Memorialisten, die profunde Humanität und den Humanismus des Biographen, die Agressivität des Literaturkritikers. Ein Zeuge unserer Zeit, die ihm — 1933, jüngstes Mitglied der Academie Francaise, 1952 Träger des Nobelpreises für Literatur Ruhm und Ehren reichlich gespendet hat, kann Mauriac, nach endgültigem Abschluß einer glücklichen Karriere, auch als Zeuge des modernen Menschen in seiner ganzen Dramatik betrachtet werden. Denn er brauchte sich nicht von Sartre „eines schlimmeren belehren“ zu lassen. Pascals „Unruhe“ hatte ihn bereits gelehrt, „was es mit dem Menschen auf sich hat“, und die Mauriacsche Botschaft wird jede Mode überdauern.

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