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BUMMLER UND BEGEISTERTE

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eines Glorienscheines eine Dornenkrone mit fingerlangen Stacheln!

Ein großer Kreis von Menschen stößt sich ringsum. Viele tragen Packen unter dem Arm. Die meisten sind gut gekleidet. Damen mit dicken Pelzmänteln sehen zu. Und auch Kinder! „Ist das Jesus?“ fragt ein Knabe traurig.

Barbarossa ist eben fertig geworden. Er steckt die Stifte ein. Ihn friert. Das Rheuma nagt an seinen Knochen.

„Und ich bin Adam!“ sagt er launisch. „Adam, der Gammler! Jedenfalls die Typen nennen mich so.“ Er fügt es gleichsam als Entschuldigung hinzu. „Ich bin ein verlorener Sohn, den ihr, o Schwestern und Brüder in Christo, in Großmut verachtet.“

Die Leute schauen sich verdutzt an. „So eine Frechheit!“ ärgern sich einige; andere kichern. „Der spinnt“, meint ein alter Mann. Im Fortgehen redet Barbarossa weiter. „Welch ein Stein des Anstoßes! Welch ein dreckiger, lausiger Mensch! Mea maxima culpa.“ Er klopft sich gegen die Brust. „Und er geht unter die Säue“, ruft er zurück in die verblüffte Menge.

Barbarossa hat sich durch die Leute gedrängt. In der Schachtel sieht er einige Papierscheine. Plötzlich ruft ihn ein gut gekleideter Mann, an dem er achtlos vorbeigeht, an. „Hallo, Sie!“ Er will ihm einen Hundertschillingschein in die Hand drücken. „Zur Weihnachtsfeier!“ sagt er lachend. Irgendwie merkt man ihm auch Mitleid mit dem verwahrlosten Kerl da an.

Barbarossa aber weist ihn grollend zurück. „Bedienen Sie sich selbst! Kaufen Sie sich davon die Fähigkeit, noch besser zu leben! Zahlen Sie damit das bißchen Liebe und Treue, das sich satte Menschen zu geben fähig sind! Zahlen Sie für die Kunst des Vergessens, und, wenn es möglich ist, die Unsterblichkeit!“ Der Mann bekommt einen roten Kopf. Er macht Anstalten, auf den Gammler einzudringen. Dann zieht er jäh die Brauen hoch, als ob er erst jetzt sähe, mit wem er sich da eigentlich befaßt habe. Barbarossa aber spukt ungerührt in den Rinnstein.

Im Volksgarten sind einige Typen beisammen. Barbarossa tritt hinzu. Sie sitzen eng aneinander auf einer Bank; ein verirrter Haufe. „Hoo, Adam!“ rufen sie und reichen ihm eine halbleere Flasche Wein. Er nimmt einen tüchtigen Schluck. Einzelne Tropfen hängen im Bart, als er absetzt. Da spielt Gerry von neuem die Gitarre an. Das Lied klingt seltsam in Barbarossas Ohren.

„Ihr seid ja alle Chorknaben! Oh, du selige Zeit, oh, du stille Nacht! Ihr kotzt mich an!“ Er wendet sich enttäuscht ab. „Das ist ein Vollprofi“, erläutert einer.

Barbarossa fühlt sich beleidigt wie vorher, als ihm da einer Geld angeboten hat. Dieser hat sich mit dem Mitleid zu einem Gammler zu trösten versucht; eine Person, die ihm noch jämmerlicher gedeucht hat als die eigene; — und die Typen dort haben es wahrlich mit sich selbst. Gammeln ist eben keine Kleinigkeit! Keine Sache, die billige Rührseligkeit verträgt!

Er hat für heute genug. Er will gehen und gehen. Das wird ihn aufwärmen. Er hat bei den Typen jetzt nichts mehr zu suchen. Die spielen ja alle „verrückt“. In der Kärntnerstraße sieht er anfänglich noch in die Auslagen. Dann will er nicht mehr. Weihnachtsengel, silberne Glöckchen, Goldfäden... Hört das nie auf? Leute tragen Pakete vorbei: buntes Papier rundum, Tannenzweige darauf. Zwei Frauen reden dort von Kindern und Geschenken.

„Alles Schmus und fauler Zauber! Einige Feststunden sollen die große Gefühlsarmut, den ganzen Mangel an Nächstenliebe für ein volles Jahr ausgleichen! Ohne mich, ihr Weihnachtsprotze!“ Er ruft es erzürnt in die Menschenschlange, die sich in ein großes Kaufhaus windet. Wo hat das ein Ende?

Es beginnt leicht zu schneien. Er fängt mit der offenen Hand einzelne Flocken und schleckt sie ab. Er will weitereilen in die Außenstadt. Er blickt nicht mehr in die Schaufenster, nicht mehr nach den Häusern. Öfter stößt er auf Lichterbäume. Vor das Rathaus haben sie gar eine Weißtanne gestellt, an die fünfundzwanzig Meter hoch. Und wie sie da leuchtend steht, ist sie ein Symbol des Friedens. Was aber kümmert es ihn! IN TYRANNOS steht das ganze Jahr, aufgenäht auf einem weißen Stoffstreifen, auf seinem Rücken.

Eine Alte humpelt gebückt daher. Sie schleppt ein verkrüppeltes Bäumchen, das recht widerspenstig ist, und ihr öfter aus der Hand fällt. Sie hat einen schweren Stand auf dem glitschigen Boden. Der Stock, der ihr Halt geben soll, gleitet immer wieder aus. Sie schreit leise auf; beinahe stürzt sie,, als der Gammler, die Hände in den Taschen, vor-

beischlendert. Ihre Schuld, denkt Barbarossa verstimmt. Was sorgt sie sich um solchen Kram?

Fast stößt er, der etwas nachdenklich geworden ist, ein Kind um. Mit blauroten Wangen und Fäustchen steht es da und weint vor sich hin. Ganz allein! Die Augen glänzen. In der Auslage sitzt ein großer Teddy mit braunen Glasaugen. „Da, schau!“ sagt es arglos zum Gammler. „Den will ich haben!“

„Wo sind deine Eltern?“ fragt Barbarossa verwundert. Der Kleine wendet sich ihm zu. Er hat keine Angst. Er fährt Barbarossa in den Bart und lacht. „Dort!“ flüstert er und zeigt in die Richtung, aus der Barbarossa gekommen ist.

„Wie heißt du denn? Und wo wohnst du?“ forscht Barbarossa weiter. Das Kind muß ja jämmerlich frieren. Offenbar hat es sich verlaufen. Einfach von einer Auslage zur andern. Es gibt ja die herrliche Traumwelt des Märchens hinter den Schaufenstern. Wenn die Welt nicht sonst so nüchtern wäre! Der Gammler brummelt leise.

Der Bub ist aus der Innenstadt. Er will ihn zurückführen. Ausnahmsweise! Gammler lieben eben Kinder. So faßt er nach einem Händchen. Da fängt der Bub zu schreien an. Ohne Teddy will er nicht gehen. Barbarossa sichtet seine heutigen Einnahmen und den ausgeschriebenen Preis. Dann nickt er zufrieden. „In Ordnung, Kleiner!“ Er führt ihn ins Geschäft.

Wie alle den Mund aufreißen! Was ist da schon seltsam? „Diesen Teddy“, fordert er forsch an. „Ich werde ihn auch bezahlen“, fügt er bei. Die Verkäuferinnen glauben wohl, daß er kein Geld habe. „Sie wissen es nicht; aber ein Gammler läßt sich nicht ohne weiteres etwas schenken.“ Da beginnt eine Frau hinterm Ladentisch, dann ringsum alle anderen laut zu lachen. Sie klatschen in die Hände und prusten vor Vergnügen. Und sie freuen sich.

Als der bärtige Gammler mit dem hübschen Kind auf dem Arm in großen Schritten vorübereilt, wenden sich die Leute erstaunt und belustigt um. Einige Frauen nicken ihm freundlich zu. Nahe am Ziel stellt Barbarossa den Knaben auf den Gehsteig herab. Er faßt einen Arm des Bären, während der Kleine mit seinem rechten Händchen den anderen ergreift. Die langen Stoffhaare decken die Fingerchen fast zu. So drippeln sie dahin. Langsam!

Dann sind sie angekommen. „Au! Du bist prima!“ meint der Knirps. Er zieht Barbarossa herab und küßt die unrasierte Wange des seltsamen Onkels. Der Gammler eilt verschämt fort. Er hört noch hinter sich eine Tür gehen, und eine Frau erleichtert rufen: „Da bist du ja endlich, du Bengel!“

Barbarossa ist nun beschwingt. Er fühlt sich großartig. Fröhliche Weihnachten! Warum nicht? Es gibt sie ja nur einmal im Jahr. Er leert seine Taschen aus, sammelt eine Handvoll Münzen und tritt in ein kleines Geschäft. Eine Kerze wird gekauft; eine Flasche Wein, ein Stück Schinken. Ist das Geld schon aus? Der Kaufmann legt noch eine Tafel Schokolade dazu. „Fröhliche Weihnachten!“ sagt er freundlich.

Barbarossa läuft nach Hause zu Jenny. Er kriecht in das muffige Auto — und wird überrascht. Ein Kerzchen brennt am Armaturenbrett. Von oben herab pendelt an einem Bindfaden eine rote Glaskugel, und einige Zweige stecken da.

Jenny hat geweint. Im Halbdunkel leuchtet ihr Gesicht flüchtig auf, als er kommt. Das flackernde Licht der Flamme huscht über beide hin. „Adam! Ich schenke dir etwas.“ Sie sagt es fest, so daß er nicht widersprechen kann, ohne sie zu kränken. Sie nimmt das Silberkettchen vom Hals. Daran hängt ein Medaillon der Madonna. „Es ist von meiner Mutter.“ Sie legt einen Arm um ihn. „Ich habe dich lieb. Ich will heute nicht mehr allein sein!“ Sie schluchzt auf und weint leise.

Barbarossa ist bewegt. Er empfindet Zärtlichkeit. Ein ungestümes Gefühl der Zuneigung zu diesem Mädchen — etwas, was lange in ihm verschüttet gewesen ist — bricht aus ihm wie eine Quelle hervor. Er will für Jenny Verantwortung tragen und ihr helfen, so oft sie ihn braucht

„Es ist gut, Jenny. Ich will es auch nicht!“ Er redet ihr freundlich zu. Da leuchten ihre Augen wie die des Knaben. Sie blickt gleichsam in die Auslage ihres neuen Lebens. Darin spiegeln sich schöne Erwartungen. Sie sieht auch die Frau mit dem Kinde.

„Gesegnete Weihnachten, Adam!“ lacht sie. Und er stimmt freudig zu: „Gesegnete Weihnacht, Jenny!“'

„Vielleicht braucht man hie und da diese Gefühle. Ja, kaum daß man es will, ist man schon mitten drinnen.“

Barbarossa meint es ernst.

Da sitzt es vor uns, das hundertköpfige Ungeheuer, das mit seinem Toben und Dröhnen den großen Saal erfüllen und im nächsten Augenblick so leis und lieblich zu säuseln vermag, daß man die Ohren spitzen muß. Da sitzt es also, das Orchester, weder männlich noch weiblich, aber auch keineswegs „sächlich“, vielmehr ein Kollektiv, das männlich und weiblich zur gleichen Zeit ist... Männlich ist es in seiner Selbstsicherheit d'e vielfach bezeugt ist. Vom Vater des Komponisten Richard Strauss zum Beispiel, der 45 Jahre lang auf seinem angestammten Platz im Münchener Hoftheater das Horn geblasen hat und einmal sagte: „Ach, ihr Kapellmeister, bildet euch auf eure Machtstellung Wunder was ein! Wenn so ein neuer Mann das Orchester betritt — wie er aufs Pult steigt, die Partitur aufschlägt —, bevor er noch den Taktstock in die Hand genommen hat, wissen wir schon, ob er der Herr ist oder wir!“ Bekannt ist auch die Antwort eines Wiener Philharmonikers, der auf die Frage, was denn der Herr S. im letzten Konzert dirigiert habe, sagte: „Das weiß ich nicht. Wir jedenfalls haben die ,Fünfte' gespielt!“ Und die „weibliche“ Seite? Hierüber soll uns Richard Strauss persönlich Auskunft geben: „Diese boshafte Horde, die in chronischem Mezzoforte bummelt, der kein Begleitungs-pp abzuschmeicheln ist, keine Präzision bei Rezitativakkorden, wenn der richtige Mann nicht oben sitzt, mit welcher Begeisterung spielen diese so oft von des Probierens unkundigen Stümpern gequälten, durch Stundengeben ermüdeten Musikanten, mit welcher Aufopferung proben sie sogar, wenn sie zu ihrem Kapellmeister das Vertrauen haben, daß er sie nicht unnütz schindet, wie folgen sie am Abend seinem kleinsten Wink...“

Es folgt ihm als Kollektiv. Aber als Kollektiv von Individualitäten. Und zwar von sehr ausgeprägten. Sie sind Fachleute und Spezialisten. Die Mitglieder eines guten Orche'sters müssen alle Stile, von Bach und Monteverdi bis herauf zu den Seriellen, kennen und beherrschen. Und sie sollen nicht nur technisch perfekt sein, sondern immer auch noch „mit Ausdruck“, „mit Gefühl“ spielen. — Hat sich eigentlich schon jemand darüber Gedanken gemacht, welcher Grad von Präzision von jedem Musiker in jedem Augenblick eines zweistündigen Konzerts gefordert wird? Der kleinste Fehlgriff — und das Malheur ist passiert, die Stimmung verdorben oder gar die Aufführung „geschmissen“.

Zu solchen Leistungen sind eigentlich nur Menschen mit sehr guten Nerven befähigt. Und gerade die haben Musiker erfahrungsgemäß nicht. — Der Orchesterspieler muß aber auch zahlreiche körperliche Vorbedingungen erfüllen, um für seinen Beruf überhaupt in Frage zu kommen. Die Bedienung des Kontrabasses erfordert eine gewisse athletische Anlage, dazu das feinste „Fingerspitzengefühl“, was sehr wörtlich zu verstehen ist. ,,'n reiner Ton auf 'n Kontrabaß ist 'n purer Taufall!“ pflegte der Vater von Johannes Brahms, selbst Kontrabassist, zu sagen. Bei den Blechbläsern ist die besondere Beschaffenheit der Lippen von Bedeutung, bei den Holzbläsern besonders die der Zähne (ein Oboist mit einer Zahnlücke ist „arbeitsunfähig“!). — Fast ebenso heikel sind die Hörner zu behandeln, die gerne „gicksen“. Die Spieler dieser Instrumente leiden an ständiger Furcht vor wunden Lippen, außerdem gibt es den Lippenkrampf, der häufig psychische Ursachen haben kann. Ein guter Dirigent weiß das und wird die Bläsergruppe mit besonderer Schonung behandeln. Vor allem wird er nicht streng blicken, wenn et v. es „passiert“ ist. Sonst würden sich die Unglücksfälle, wie in einer Kettenreaktion, häufen.

Denn Orchestermusiker sind empfindlich. Sie sind selbst Persönlichkeiten und sollen immer dienen: dem Werk, dem Dirigenten, dem Solisten. Und wie viele Enttäuschte sitzen da: die einmal, nach Absolvierung der Akademie oder des Konservatoriums von einer glänzenden Solistenlaufbahn geträumt hatten. Aber dazu reicht es nur selten. Und dann traten sie eben in ein Orchester ein. — Aber das ist, zum Glück, bei der Mehrzahl nicht so. Sie schaffen sich Kompensationen, als Mitgleider eines Kammerensembles oder als Lehrer. Und sie empfinden es als Ehre, in einem guten Orchester zu spielen und diesem alle ihre Kräfte zu widmen. Entscheidend ist, wie sehr einer die Musik liebt. Und in dieser Liebe zur Musik finden sich alle. Das hilft auch über gewisse Rivalitäten und Eifersüchteleien hinweg, die es im Orchester — wie in jeder menschlichen Gemeinschaft — natürlich auch gibt. „Nie sollen Menschen“, sagte einmal der Dirigent Charles Münch, „die sich hassen, zusammen musizieren dürfen.“

Das Orchester ist ein beseelter Organismus — Und als solcher etwas Geheimnisvolles. Jedes der großen Ensembles hat seinen besonderen Charakter, seine eigene Klangfarbe, seine besonderen Qualitäten. Geheimnisvoll für den Laien ist auch, was die Musiker da oben manchmal treiben. Eben hat der Flötist noch ein normales Instrument in der Hand gehabt. Jetzt ist es plötzlich nur halb so lang. Hat er es auseinandergenommen? Nein, er hat es nur mit der Piccoloflöte vertauscht. — Plötzlich beugt sich der Paukist aufmerksam über sein Instrument und legt das Ohr ans Trommelfell. Will er der Pauke etwas erzählen — oder flüstert sie ihm was ins Ohr? Nein, er stimmt sein Instrument nur für die nächsten Takte um. Was suchen die Spieler der zweiten Geigen plötzlich in ihrer Westentasche? Ein Feuerzeug, um sich eine Zigarette anzuzünden? Nein, sondern nur den Dämpfer, den sie schnell und geschickt aufsetzen. Weshalb montieren plötzlich die Tuben kleine Fußbälle auf ihre Trichter? Wollen sie ins Publikum „schießen“? Nein, sie befolgen lediglich die Partiturvorschrift „mit Dämpfer“! Das Geheimnisvollste aber, was sie machen, ist die Musik: die Umsetzung von Notenzeichen in Töne, die unseren Geist und unser Gefühl mit einer Unmittelbarkeit ansprechen, wie kein anderes Medium der Kunst.

GERALD FLORIAN

MÜDES JAHR

du hast die äugen geschlossen

und dein fillliges schneehaar

über die rücken der berge gelegt,

über die wege und straften,

die kein ende hätten

in den gewölbten nachten,

würdest du sie nicht auslöschen,

unmerklich und leise.

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