„Camondo“ von Edmund de Waal: „Wie sich Trennung anfühlt, Verstreuung“
Nach „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erforscht Edmund de Waal nun auch in seinem neuen Roman „Camondo“ die Geschichte einer jüdischen Familie.
Nach „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erforscht Edmund de Waal nun auch in seinem neuen Roman „Camondo“ die Geschichte einer jüdischen Familie.
Für sein neues Buch steigt Edmund de Waal die Treppen eines herrschaftlichen Pariser Hauses bis unters Dach hoch, wo sich in den ehemaligen Dienstbotenzimmern das Archiv der jüdischen Familie Camondo befindet. Der Besitzer des repräsentativen Gebäudes hat es nach seinem Tod 1935 dem Musée des Arts Décoratifs unter der Auflage vermacht, dass das Haus unverändert bliebe. Damit wurde es zu einer Zeitkapsel, Zeugnis einer vergangenen Epoche.
Der bildende Künstler und Autor de Waal hatte mit seinem ersten Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ die Geschichte seiner jüdischen Familie erforscht, der Ephrussis, die unter anderem ein Palais in Wien besaß. Letztes Jahr wurden die von den Nazis Vertriebenen und Enteigneten mit einer Ausstellung von de Waals Recherchematerial im Jüdischen Museum gewürdigt.
Für „Camondo“ führt de Waals Erkundung von der verschrifteten Überlieferung im Archiv zur architektonischen Anlage des Pariser Hauses, zu Details von Mobiliar und Kunstgegenständen bis zur Suche nach der Motivation des Sammlers, indem er diesem Briefe mit der persönlichen Anrede „Mein Freund“ schreibt und Fragen dazu stellt. Er will das Vergangene in den Dingen erspüren und setzt, wie schon in „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, neben dem Sehsinn seinen Tastsinn ein.
De Waal berührt Stoffe und Teppiche, öffnet Schubladen, fühlt sich in Räume ein, erzählt von einer Zeit, als es reichen jüdischen Familien wie dem in Konstantinopel geborenen Camondo möglich war, sich in Paris niederzulassen, einen kultivierten Lebensstil zu pflegen, sich als Teil der Pariser Gesellschaft zu fühlen, mit einem Wort, dazuzugehören, indem die einst Eingewanderten französischer als die Franzosen wurden. Mit dem Haus wollte Camondo „ein perfektes Bühnenbild schaffen für Konversation, für Aufklärung, für den Moment, in dem die französische Kultur am kultiviertesten war, am kritischsten“, begreift de Waal.
Vorausahnung einer Diaspora
Zum Zeitpunkt der Schenkung sind antisemitische Schmähungen in Frankreich dann längst an der Tagesordnung. De Waal deutet die Erstellung der Sammlung sowie die Umwidmung des Wohnhauses zum Museum als Vorausahnung einer kommenden Diaspora, die mit der Kapitulation Frankreichs einsetzen wird. Damit ähnelt das Narrativ der Familie Camondo dem der Ephrussis: von Aufstieg, Wohlstand, Respekt zu Ausgrenzung, Verfolgung, Tod. Diese Unausweichlichkeit ist es, welche die Wut des forschenden Erzählers nährt und ihn veranlasst, seine Tätigkeit nicht ruhen zu lassen.
Um dem Gefühl eines Verlusts entgegenzuarbeiten, wird die goldene Ära heraufbeschworen, in Einzelheiten ausgebreitet. Doch je wunderbarer das Verlorene erscheint, desto schlimmer der Effekt, dass all dies aus politischer Willkür und Rassismus zerstört wurde. Also ruft de Waal Gegenstände als Zeugen auf, um die Menschen dem Vergessen zu entreißen. Er nimmt sich Zeit, um dem Sammler nachzuspüren, der die Zimmer eingerichtet und die Artefakte arrangiert hat, zitiert dazu Autoren wie Walter Benjamin und Marcel Proust.
Indem der Autor mit allen Sinnen und Gedanken in die Vergangenheit forscht, wird die museale Stimmung des geschichtsträchtigen Hauses aufgebrochen. Und wenn er über frühere Lebenswelten nachdenkt, lernt er meist auch etwas über sich selbst. Als bildender Künstler möchte er zum Beispiel nicht, dass die von ihm geschaffenen Objekte je zum Stillstand kommen, er will alles beweglich halten: „Ich liebe das Gefühl von Objekten im Transit, dieses Pulsieren.“
Stilistisch ermöglicht die in Briefform gehaltene Recherche eine direkte Verbindung des Erzählenden mit der Historie. Im Gegensatz zur umfangreichen Darstellung der Ephrussis ist „Camondo“ aber eher ausschnitthaft gehalten. So imaginiert de Waal etwa anhand einer Menükarte das Diner im Haus Camondo vom 22. April 1935, beschreibt Speisen und Geschmackserlebnisse. Das Fragmentarische des Erzählens wird gespiegelt in Überlegungen zur Fragilität seines Werkstoffs, des Porzellans, und zur japanischen Technik des Kintsugi: Zerbrochenes kann neuerlich zu einem Ganzen gefügt werden, die in Gold gefassten Bruchlinien bleiben jedoch sichtbar. Denn es sind die Lücken der Erinnerung, welche de Waal antreiben.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!