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„Carmen“ und die Kritik

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Wer sich nach der mit Spannung erwarteten Galapremiere der Oper „Carmen“ bei den Salzburger Festspielen ein Bild nach den entsprechenden Berichten der Wiener Zeitungen machen wollte, war übel dran. Warum — das soll die folgende Blütenlese dokumentieren. Als erste Zeitung kam uns im Sommerfrieden eines kleinen österreichischen Kurortes der „Expreß“ in die Hand. Überschrift, in dicken Lettern „Weshalb sich’s lohnt, hierher zu fahren“, Untertitel, in gleich großer Schrift: „Musik und Szene in vollkommener Harmonie“. Und dann heißt es weiter: „Man wird heutzutage... nirgends eine „Carmen“-Produktion erleben können, deren Gesamteindruck einen künstlerischen Standard von ähnlicher Vollkommenheit erreicht. Und man wird nirgends die absolute Schönheit einer idealen musikalischen Wiedergabe ähnlich glanzvoll realisiert finden...“ Und weiter im Text: „Dem Regisseur Karajan macht es allerdings der Dirigent Karajan leicht...“ „Karajans musikalische Leitung darf getrost als phänomenal bezeichnet werden“. Dann stößt man freilich auch auf Sätze wie: „ ... daß die dramaturgisch in diesem Stück nicht immer klar motivierten Chorauftritte leicht und plausibel zu arrangieren sind.“ — „Die Schmugglerszene hat Otto (der Bühnenbildner) durchaus plausibel an den Strand verlegt.“ Karajan brauche „keine szenische Überdeutlichkeit, um manche Zusammenhänge plausibel zu machen.“ „Alles hat eine vernünftige Form, ist plausibel, weder allzu hektisch noch allzu bemüht.“ — Im Ganzen also: ein Hymnus mit Plausibilitätsklausel. Wie sagt doch Gütersloh? „Die Sprache hat eine verflixte Tendenz zur Wahrheit“. Aber immerhin: Auf denn nach Salzburg, um das achte Weltwunder zu sehen!

Am nächsten Morgen trafen dann die Wiener Tageszeitungen ein, und das Gesicht des Lesers wurde lang und länger, denn die Gesänge seiner Kritikerkollegen erklangen immer bang und bänger. Überschrift im „Volksblatt“: „Breitwandoper mit Schönheitsfehlern“, und im Text: „Das Erschütternde an dieser Aufführung war daher nicht so sehr, daß sie szenisch völlig danebenging, sondern daß sie auch im Musikalischen glanz- und spannungslos blieb, in den Tempi verschleppt, langweilig und ohne Feuer.“ Hierauf folgt, etwa eine Spalte lang, die Aufzählung szenischer Ungereimtheiten.

Der Titel in der „Presse" hieß: „Ein falscher Tritt zum Abgrund führt.“ Aus dem Text: „ ... eine szenisch nicht nur anfechtbare, sondern einfach indiskutable und eine musikalisch nicht nur ungewöhnliche, sondern einfach unpräzise Aufführung.“ Das Publikum habe „einer Zerreißprobe beigewohnt, bei der ,Carmen' tatsächlich zerrissen wurde.“ Auf die Sänger bezüglich: „Sie haben Unfaßbares ertragen, sie haben Widersinniges zu singen versucht.“

Die „Arbeiter-Zeitung“ resümiert: „Wie es glauben machen, wo man es selbst nicht glauben wollte: Die mit Spannung erwartete .Carmen' von Karajan im Großen Festspielhaus inszeniert und dirigiert — sie wurde zu einer beispiellosen Enttäuschung, sowohl musikalisch als auch was die Szene betraf. Ohne die Suggestivkraft, die der Name Karajan allein ausströmt, hätte das schmerzlich ausgehen können.“

Die „Illustrierte Kronenzeitung“ nimmt auch das Publikum ein wenig unter die Lupe, diesen „Jahrmarkt der Protzsucht der Neureichen und der nur sehr spärlich vertretenen echten, weil angeborenen Vornehmheit — dies alles müßte zu einem einzigen Schmunzeln verleiten, wenn es nur nicht gar so deprimierend wäre! Es ist das Publikum, das er sich geschallen hat, ein Geldpublikum, das aber seine Götter nach der Mode wählt und ebenso schnell wieder fallen läßt, wie es sie erhob. Und Karajan hat seinen Zenit bereits überschritten.“ Leider hat Kara jan diesmal auch in der Wahl seiner Sänger zum Großteil versagt. Von den vier Hauptpartien waren nur die Carmen und die Micaela mit Sängerinnen von überdurchschnittlichem künstlerischen Niveau besetzt.“

Das Merkwürdigste aber erlebte der bereits völlig desorientierte und ein wenig verstörte Leser in der „Wochenpresse“. Da findet sich auf Seite 10, vom Kunstreferenten verfaßt, eine Kritik mit dem Titel: „Weltwunder, wohin?“ Aus dem Text „Unter einem anderen Dirigenten und in einem anderen Haus wäre dieselbe Vorstellung mit ihren Werkmißverständnissen, ihrer larmoyanten musikalischen Breite und ihren Besetzungsmängeln sehr wahrscheinlich ins Sperrfeuer von Protestkundgebungen geraten. — Von Karajans Rücken fasziniert, klatschten die Salzburger Premieren besucher so laut Beifall, als hätten nicht nur einige wenige, sondern alle ihr Ticket für einen vierstelligen Betrag auf dem schwarzen Markt erworben und daraufhin beschlossen, daß keinesfalls schlecht sein könne, was so viel kostet.“ Soweit der Kritiker. Aber auf Seite 16 des gleichen Blattes findet sich eine zweite, ganzseitige Besprechung, als Inserat aus den „Salzburger Nachrichten“, und da liest man’s freilich anders. So zum Beispiel: „Ein Traum, ein son- nenhafter Traum von Carmen, einmalig verwirklicht auf der Riesenbühne des Großen Salzburger Festspielhauses.“ Man hört vom „malerischen Einzug der Stierkämpfer, der Peones, der Garden, der Piccadores und Banderillos, des gefeierten Escamillo endlich — ein Fest auf dem Festpiel“ usw. Es gibt, das sei zugegeben, auch in dieser Besprechung einige Einwände, aber im ganzen ist sie aufs Festliche gestimmt — wofür es uns im Hinblick darauf, daß sie in der größten Zeitung der Festspielstadt erschienen ist, an Verständnis nicht mangelt.

Zum Schluß muß der Musikkriti-

ker der „Furche“ wohl die Frage seiner Leser beantworten, wie denn ihm selbst diese umstrittene „Carmen“ gefallen hat. Er war dort, um die Uraufführung der „Bassariden“ zu sehen, und hat bei dieser Gelegenheit auch eine Reprise der „Carmen“ besucht, fest dazu entschlossen, sich die „Oper aller Opern“ (und sein Lieblingswerk dazu) durch nichts und niemanden vergrausen zu lassen. Da in der „Furche“ Nummer 32 eine Premierenbesprechung unseres ständigen Salzburger Korrespondenten erschienen ist, möchte ich mich auf einen Satz beschränken: Ich fand diese „Carmen“ pompös, lang und langweilig. Wir haben „Carmen“ an mittleren deutschen städtischen Bühnen, an kleinen französischen Provinztheatem und auch, vor einigen Jahren, als Riesenspektakel in der Großen Oper von Paris gesehen. Aber noch nie haben wir bei einer Carmen-Aufführung auf die Uhr geschaut — wobei wir uns in Salzburg mehrmals mit schlechtem Gewissen ertappten. Denn dies, dies vor allem, darf bei einer „Carmen“-Aufführung nicht passieren.

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