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Chinas Uhren gehen anders

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DER SAAL WAR ZUM BERSTEN GEFÜLLT, sogar die Sessel der Platzanweiser waren belegt; die jungen Teilnehmer — die ältesten waren kaum mehr als 30 Jahre alt — in ihren farbenfrohen Trachten waren die Delegierten der vierten Plenartagung des erweiterten Sekretariates des afro-asiatischen Journalistenverbandes in Peking. Nicht weniger als 19 Länder schickten meist in den Oststaaten ausgebildete Journalisten nach Peking. Neben einem algerischen Wirtschaftsjournalisten saß ein Lokalredakteur aus Kambodscha; Ceylon und Kongo-Leopoldville schickten die außenpolitischen Redakteure ihrer nationalen Nachrichtenagenturen; Mali, Mozambique, Syrien und Japan waren durch die Lokalredakteure ihrer größeren Tageszeitungen vertreten.

Als Wan Li, der stellvertretende Bürgermeister der Gaststadt, sich zu einer Begrüßungsansprache erhob, wußten die farbenprächtigen Delegierten noch nicht, was ihnen die Zukunft bringen werde, eines wußten sie: Die indonesische Hauptstadt Djakarta, wo der Sitz ihres Sekretariats bisher war, müssen sie schleunigst verlassen, denn die neuen politischen Verhältnisse des „Staates der tausend Inseln“ hatten für eine pekingorientierte Organisation an Anziehungskraft verloren. Was einige von ihnen bereits wußten und viele ahnten, wurde durch Wan Lis Rede bestätigt: Das ständige Sekretariat der afro-asiatischen Journalisten wird nach Peking verlegt.

So farbenprächtig, wie diese Wochenendsitzung der afro-asiatischen Journalisten war, ist auch das offizielle, nach außen gerichtete Leben Chinas. Eine Delegation reicht der anderen die Türschnalle, eine Tagung löst die andere ab. Ist dieses geschäftige Leben eine „neuropoli-tische“ Flucht nach vorne, eine Flucht vor den inneren Schwierigkeiten?

Wer nach China kommt — diese seltene, immer noch beschwerliche Reise ist nunmehr leichter geworden —, sieht, daß trotz Mangel und Not die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dieses kommunistischen Riesenlandes beträchtliche Fortschritte macht. Vor allem, und das ist für die chinesische Mentalität von außerordentlicher Wichtigkeit, im Bereiche der persönlichen Hilfe.

ANFANG MÄRZ VERGANGENEN JAHRES wütete in Hsingtai in der Provinz Hopeh in Nordchina ein schweres Erdbeben. Zwei Wochen später erbebte erneut die Erde in Hsingtai. Unzählige Menschen fielen der Naturkatastrophe zum Opfer, zahlreiche Häuser und Äcker wurden vernichtet.

Die Hilfe kam rasch, und für chinesische Verhältnisse war sie ergiebig: Verbände der Armee wurden nach Hsingtai entsandt. Die Soldaten einer Abteilung legten die letzten siebeneinhalb Kilometer bis zu einem schwerbetroffenen Dorf im Laufschritt zurück. Die Luftwaffe sandte Hubschrauber mit medizinischem Personal und Medikamenten; Nahrungsmittel, Baumaterial und andere Waren folgten.

Gleichzeitig mit den ersten Hilfstruppen kamen auch die ersten Regierungsparolen, zwei Losungen, die mit großen weißen Zeichen auf die beiden Seiten des Flußdammes in Hsingtai gemalt worden waren, fielen auf. Die eine lautete: „Die Lehre Mao Tse-tungs ist die mächtigste Waffe gegen Erdbeben“, die zweite: „Erdbeben können die heldenmütigen Volksmassen nicht bezwingen.“

Es ist nicht schwer, über solche und ähnliche, zweifelsohne „ersatzreligiöse“ Sprüche zu lächeln. Wer jedoch die chinesische „Volksseele“ kennt, weiß, daß solche Parolen nicht Reis und Bulldozzer vertreten sollen. Ihre Wirkung und Zugkraft ist zu groß, als daß wir, die wir uns inmitten europäischen Wohlstandes befinden, derlei noch verstehen können.

Am 22. März bebte in Hsingtai — trotz der offiziellen Losungen — ein drittes Mal die Erde. Plötzlich schwankte der Boden unter den Füßen und Trümmer sausten durch die Luft. Krachend stürzten die Häuser des Dorfes inmitten einer alles bedeckenden Staubwolke ein. Auf den Feldern spritzte trübes Wasser empor.

Die Bauern, durch Jahrtausende gedrillt, brachen nicht in verständliche Panik aus. Die Rettungsarbeiten begannen sofort und wurden diszipliniert und mit Erfolg durchgeführt. Bald konnte die Arbeit auf den Feldern wiederaufgenommen werden.

In dem schwer betroffenen Dorf Hsingtai (3200 Einwohner) wurden Hunderte von Notbaracken und Zelte aufgestellt, und bald stieg Rauch von den provisorischen Öfen auf. Einige Bauern reparierten ihre beschädigten Geräte, andere trugen Holz und Ziegelsteine herbei und säuberten die Stellen, wo bald der Wiederaufbau der Häuser beginnen sollte.

Bereits einige Tage nach dem Erdbeben ging die Arbeit in gewohnter Weise weiter. Auf den Weizenfeldern waren die Leute mit Jäten, Bewässern und Streuen von Kunstdünger beschäftigt. In den Dörfern konnte man den kreischenden Lärm der mechanischen Sägen und das Schlagen von Schmiedehämmern hören. Reihenweise waren provisorische Bauten aufgestellt worden.

Diese Ausführlichkeit soll allerdings nur die Lebenseinstellung von 650 Millionen Chinesen repräsentieren, die als organisierte Masse ihre inneren und äußeren Schwierigkeiten zu meistern bereit sind.

CHINA BLEIBT trotz gewollter Industrialisierung ein Agrarland. Darum entscheidet nach wie vor die bäuerliche Bevölkerung die Geschicke des Landes; wer China nur halbwegs verstehen will, sollte sich mit seinen Bauern beschäftigen.

Die echten bäuerlichen Brennpunkte sind auch in China die Märkte. Zu ihnen gehört unter anderem der Markt Hsingho (auf Deutsch: „Dreieck“). Groß ist dieser Markt, der sich auf der freien Fläche zwischen drei zusammenlaufenden Straßen Shanghais befindet, wovon auch sein Name herrührt. An seinen insgesamt etwa 60 Verkaufsstellen gibt es Gemüse,: Fleisch, Fische und Krabben, aus Sojabohnen hergestellte Produkte, Geflügel und Eier.

Selbst im Winter findet man an den Gemüseständen Frühlingsgemüse, wie Spinat, Erbsen, Zwiebeln und rote Rüben; Gurken, Fisolen und Knoblauch, typische Produkte des Sommers; und Tomaten und Kartoffeln, als wäre es erst Herbst. An Fischereiprodukten sind mehr als 50 Sorten von See- und Süßwasserfischen zu haben; in einem großen Bottich tummeln sich lebende Süßwasserfische. Das Sortiment . des Marktes „Dreieck“ umfaßt rund 700 verschiedene Nahrungsmittel. Jeden Tag werden hier 80.000 Einwohner dieses Stadtbezirkes mit mehr als 60 Tonnen Eßwaren versorgt.

DAS BUNTE, VIELBESUNGENE LEBEN an den chinesischen Märkten von einst, das Feilschen und die individuellste aller Kundenwerbungen, existieren heute nicht mehr. Wie alles in China, so sind auch die Märkte bis zum letzten durchorganisiert. Die Kunden wissen, daß sie sich auf die festen Preise verlassen können und müssen. Vor allem wacht das Argusauge der Marktbehörde über der Warengüte. Vergilbte und faule Gemüseblätter müssen von den Verkäufern sofort entfernt werden. Das gesamte Nahrungsmittelangebot wird täglich überprüft. Da es an modernen Kühlschränken mangelt, ist das Quantum an verdorbener Ware ziemlich groß. Viele Händler können sich nur durch rasches Verkaufen helfen.

Der Tourist und der Kunde waren in China schon immer „Könige“. Diese Gepflogenheit ist erhalten geblieben. Den Gewohnheiten der Kunden entsprechend, ist der Markt von 5 Uhr bis 18 Uhr geöffnet. Wer vor 18 Uhr nicht alle Einkäufe selbst erledigen kann, braucht nur einem Verkäufer seinen Korb mit einer Wunschliste zu überlassen und kann sich am Abend alles schön eingepackt abholen.

Alles, wie einst, kann man in China heute nicht mehr kaufen; dafür können alle, was in China noch nie der Fall war, etwas kaufen. Sie leben zweifelsohne bescheiden, vielleicht zu bescheiden, aber sie leben, was in diesem Riesenland schon sehr viel bedeutet.

Die Familie des Arbeiters Ling Wen-lung im Shanghaier Hüttenwerk Nr. 5 hat kein hohes Einkommen: Sechs Personen müssen mit 80 Yüan (1 Yüan = 10 Schilling) ihr Auslangen finden. Die Hausfrau berichtete einem Journalisten: „Außer Reis und Mehl geben wir fürs Essen monatlich 15 Yüan aus. Unter der Woche brauchen wir täglich nur etwa 35 Fen.“ (1 Yüan = 100 Fen.) „Heute habe ich zwei Pfund Bandflsche und drei Pfund Kopfsalat gekauft. Am Sonntag lassen wir etwa einen Yüan springen. Diesen Sonntag habe ich mehr als ein Pfund Hammelfleisch, drei Pfund Rüben, ein Pfund Chinakohl und ein fünftel Pfund in öl gebratenen Bohnenkäse gekauft.“

DEN PROPAGANDISTISCHEN WERT DER ECHTEN VOLKSKUNST haben die KP-Machthaber in China rechtzeitig entdeckt. Ihre Förderung kennt kaum Grenzen. Auf einer Ausstellung von Werken der bildenden Kunst, die Arbeiter und Bauern in ihrer Freizeit geschaffen hatten, fand ein Holzschnitt allgemeinen Beifall. Sein Titel: „Unbesorgt, wir finden schon Rat!“ Auf dem Bild sieht man einen alten Bauern, der offensichtlich mit seiner Enkelin gerade an einer kleinen Bahnstation ausgestiegen ist und bei der Auskunftstelle vorspricht. Wahrscheinlich ist er zum ersten Male in der Gegend. Will er seine Kinder besuchen oder Verwandte ausfindig machen, die ihn nicht abgeholt haben? Die junge Frau am Telefon ist bemüht, ihm aus der Verlegenheit zu helfen.

Der junge Amateurkünstler, der das lebensnahe Bild schuf, heißt Dschang Dschen-guo und ist zweiter Lokführer in der Eisenbahndirektion Djinschou in der Provinz Liaoning. Er wurde 1958, nach Beendigung der Mittelschulunterstufe, Eisenbahner und begann zunächst für die Wandzeitung der Werkstätte zu zeichnen. Um ihn und andere künstlerisch Begabte unter ihrer Belegschaft auszubilden, rief die Eisenbahndirektion einen Freizeitzirkel für Kunstschaffende ins Leben und stellte ihnen in der Arbeiterbibliothek einen Raum als Studio zur Verfügung.

Offizielle und inoffizielle

Betrachter des heutigen China handeln leider nur allzuoft nach dem Slogan: Scharf gezielte Polemiken verkaufen sich gut. Leider nehmen sich nur wenige die Mühe, den einfachen Arbeiter oder Bauern dieses riesigen „Reiches der Mitte“ zu verstehen und zu begreifen. Schaden würde es aber nicht...

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