6585597-1951_44_10.jpg
Digital In Arbeit

Chöre aus Dänemark und Amerika

Werbung
Werbung
Werbung

Praetorius, Senfl und Melchior Frank, Schütz, Isaac und Leo Haßler: man kann es kaum glauben, daß ihre Kunst während der klassisch-romantischen Periode fast ganz in den Schatten verdrängt war und erst — von einzelnen früheren Wiederbelebungsversuchen abgesehen — durch die Jugendbewegung kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg neu entdeckt wurde. Ihre Chöre, meist geistlichen oder volkstümlichen Charakters, bilden zusammen mit den Chorälen und Choralmotetten von J. S. Bach den Grundstock jedes ambitionierten Chorprogramms in der Gegenwart. Man mag manches an der zeitgenössischen Musikpflege und am modernen Konzertbetrieb kritisieren: daß wir diese wertvolle und differenzierte Chormusik wieder pflegen, fällt schwer zu unseren Gunsten ins Gewicht! Der Kopenhagener Knabenchor, der sich der besonderen Protektion des dänischen Königs erfreut und von Mogens Wöldike geleitet wird, sang — mit tadelloser deutscher Aussprache — Chöre der genannten Meister. Den zweiten Teil bildeten Lieder von C. Weyse (1774 bis 1842) nach Jacobi, Hölty und Goethe sowie dänische Kunst- und Volkslieder. Wir lernten einen etwa aus 30 Knaben- und einem Dutzend Männerstimmen zusammengesetzten Chor kennen, dessen gute Disziplin und stimmliche Schulung hervorzuheben sind. — Zu Beginn des Konzerts gab es den üblichen Betriebsunfall mit der neuen Bundeshymne, die, vom Publikum nur zögernd agnosziert, dafür um so kräftiger beklatscht wurde ...

Auch der aus 25 farbigen Sängern bestehende (gemischte) „Hall-Johnson-Chor“ brachte fast ausschließlich geistliche Musik: vier Zyklen Spirituals und eine kleine Gruppe weltlicher Gesänge, unter diesen den berühmten, immer wieder faszinierenden und mit instrumentalen Effekten versehenen „St Loui6 Blues“ — Die ergreifende Schönheit der Spirituals ist oft gerühmt und oft beschrieben worden. Doch kann von diesen inhaltlich einfachen, musikalisch höchst komplizierten Gesängen nur die Darbietung selbst, womöglich durch Negersänger, eine lebendige Vorstellung geben. Die Titel und Themen: „In leuchtenden Himmel6sdilössern“, „Balsam in Gilead — ein ruhiges Lied der Ermutigung auf dem Wege“, „Crucifixion-Meditation über die Tragödie und Mystik der Kreuzigung“, „Lied an den Fluß“, „Die Klage einer alten gebrechlichen Sklavin, auf einer Plantage zurückgelassen“, „Drüben im Beulah-land — ein musikalischer Vorausblick auf die Wonnen der Zukunft“... Häufig tritt ein

Vorsänger vor das Ensemble; hiebei konnte man die verschiedenen Klangfarben und die ausgezeichnete technische Schulung der einzelnen Stimmen bewundern: hochdramatische Bässe und Altos in einem „Pilatus-Lied“ und in der Klage der verlassenen Sklavin, weiche und ausdrucksvolle Stimmen in dem Sterbelied „Fix Me, Jesus“ und in einer „Arie“ aus dem für Negertheater geschriebenen Schauspiel „The Green Pastures“. — Klanglich wirkt das Ensemble homogener und weicher al6 unsere Chöre. Die Wirkung auf die Zuhörer war 6tark, der Beifall geradezu 6türmi6ch. Das überaus bescheidene und disziplinierte Auftreten der farbigen Künstler nahm der Veranstaltung jeden sensationellen Beigeschmack.

Von dem Venezianer Francesco C a v a 11 i, dem Schüler Monteverdis und bekannten Opernkomponisten, sang der Wiener Kammerchor unter Reinhold Srhmid eine achtstimmige „Missa pro defunctis“ für Doppelchor: ein ernstes und zugleich prunkvolles Werk, das mit aller Freiheit auf den Wegen Palestrinas wandelt. Ohne Stilbruch 6ind homophone, liturgisch geführte Stimmen in den vollen Chorsatz eingefügt oder wechseln mit diesem ab. Das schwierige Werk wurde sehr rein und tonschön gesungen — ohne Trockenheit und ohne romantische Gefühl6-schwelgerei. In dem „Stabat mater“ von G. B. Pergolesi, einem in Wohllaut und Schmerz schwelgenden Werk, das angeblich im Auftrag der Bruderschaft der Cavaliere della Virgine de Dolori geschrieben wurde, klang die zarte, gutgeführte Stimme Ro6l Schwaigers mit der dunkleren von Elisabeth Fez angenehm zusammen. Das Kammerorchester begleitete aufmerksam unter Franz Litschauers Leitung.

Nur der zeitliche Abstand zwischen den alten niederländischen Meistern, die der Kopenhagener Knabenchor gesungen hat, und den zeitgenössischen Chorsätzen, die wir im ersten Konzert des Zyklu6 „Musica Viva“ hörten, ist groß. Stilistisch — in Haltung, Ausdruck und Technik — findet 6ich viel Verwandtes. Das ist kein Zufall, denn der Anschluß an die vorklassische Musik wurde von vielen zeitgenössischen Tonsetzern bewußt angestrebt; ebenso bewußt wie die Distanzierung von der Lieder-taf elei und einem bestimmten pathetisch-sentimentalen Mänmerdioretil. Am stärksten war — wie 6dch das in einem zeitgenössischen Chorkonzert gehört — J. N. David vertreten (mit den „Victimae paschali laudes“, zwei Liedern im Volkston und drei Tierliedern), über die Eigenart und Meisterschaft Davids let kein Wort zu verlieren. — Etwas konservativer und farbiger zeigen sich J. F. Dop-pelbauer, Alexander Spitzmüller und Erich Markhl mit einem „Crucifige* und einem „Miserere“, während Karl Schiske in Psalm 99 und Paul A n g e r e r, ohne besondere Eigenart, 6tark von Hindemith beeinflußt erscheinen. Joseph Lechthaler war leider nur durch zwei kurze Fragmente vertreten; desgleichen J. M. Hauer mit zwei ätherisch verschwebenden Zwölftonspielen, der Eigenart immer wieder für wenige Minuten verzaubert. Den stärksten Eindruck empfing man infolge der Strenge und der Ausdruckskraft des Stils von Anton Heillers .Hoc corpus“ aus der Communio vom Palmsonntag; von zwei geistlichen, an Bach anklingenden Liedsätzen Heillers, deren farbige Harmonik von Martin und Messiaen herkommen dürfte; schließlich von der virtuosen .Tragischen Geschichte“ (nach Chamisso), die unter der Leitung des Komponisten wiederholt werden mußte. Gerhard Rühm vertonte zwei Texte — das Wessobrunner Gebet und ein Fragment aus dem „Heliand“ — in barbarischer neuhochdeutscher Übertragung (aber »icht aus dem „Gotischen“, wie das Programm erläutert, sondern aus. dem Althochdeutschen beziehungsweise Altsächsischen) für gemischten Chor und zwei schlagwerkartig behandelte Klaviere — so, wie Orff es gemacht hätte, wenn er über diese Texte geraten wäre. Trotz de6 überdeutlich spürbaren Vorbildes, vor allem der „Antigonae“, zeigen diese zwei kraftvoll deklamierten Stücke mehr Eigenart als vieles andere, das heute geschrieben wird. Sie zeigen ferner Klangsinn und Zivilcourage. H. E. Apostel war Mit der Barbeitung der Volksweise von den „Zwei Königskindern' nur dem Namen nach vertreten. — Zehn der genannten Werke wurden speziell für den Akademiekammerchor geschrieben, und man versteht, daß die Komponisten ihre Werke vertrauensvoll in die Hand Professor Ferdinand Großmanns gelegt haben, der 6ich ein Instrument geschaffen hat, das 6chier unvorstellbare Schwierigkeiten meistert. Es wäre denkbar, daß eine« Tages ein Komponist daherkommt und seinen Ehrgeiz dareinsetzte, etwas zu schreiben, das der Akademiekammerchor nicht singen könnte. Es scheint nicht sicher, daß dem Komponisten dies gelänge ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung