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Christliche Jugend im Dilemma eines Streiks

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Graue kalte Novembertage des Jahres 1947 in Frankreich. Der Nord- und Nordwestwind peitscht durch die Straßen der Industriestädte. Hunger und Kälte scheinen mit dem hereinbrechenden Winter ein eisiges Bündnis geschlossen zu haben. Die Preise steigen bedenklich. Bauern kommen mit ihren hohen zweirädrigen Karren, die schwer beladen sind mit halbgrünem Holz, bis vor die Haustüren der vom Krieg hart hergenommenen Arbeiterviertel. Aber wer kann sich noch ein paar Bündel auf einmal leisten? Frauen rechnen mit den wenigen Franken so, wie einst ihre Eltern die Soüs ängstlich zählten. Die Preise sind im Steigen. Die täglichen Sorgen sind groß. Jedes Bistrot wird zur Versammlungshalle, während dunkle Gestalten und politische Agitatoren in alten zerfahrenen Autowracks die Gegend bereisen. Sie tauchen auf und verschwinden gleich aufgescheuchten Feldmäusen.

„Streik” raunen sich die Frauen ängstlich zu, „Streik” stoßen die Halbwüchsigen mit unternehmungslustigen Augen hervor und denken dabei an die Tage der liberation vom Spätherbst 1944. „Streik?” fragen sich ergraute Arbeiter mit skeptischer Miene und schieben ihre Mützen noch tiefer von der rechten nach der linken Seite. Was wird er wohl bringen? Es geht nicht mehr, so ist die Überzeugung vieler auch ruhig und sachlich Denkender. Aber was dann? Die CGT, die von den Kommunisten inspirierte große Gewerkschaft, fordert eine 25prozentige generelle Lohnerhöhung. Was aber dann? fragen alle, welche die rückständige, durch die Besatzungsmacht ausgeplünderte und wertvoller Maschinen beraubte Industrie genau kennen. Frankreich war schon im Jahre 1939, zu Beginn des Krieges, nicht auf der Höhe, kaum konkurrenzfähig. Und heute? Im Jahre 1947? „Streik?” fragen sich aber auch die verantwortungsbewußten Arbeiter und Jungarbeiter, die einerseits wohl die Not am eigenen Leibe verspüren, aber auch wissen, daß die Antreiber nicht das Erbarmen mit der Not der Arbeiter beseelt, sondern das Streben, die politische Vormachtstellung zu erringen.

Und der Streik brach aus, auf Kommando. Länger als ein Monat brandeten seine Wellen durch die Industriestädte, verursachten viel Not und Leid. Es gab eine große Enttäuschung, aber auch sehr wichtige Erkenntnisse. Von diesen berichtet ein in grüner Farbe gehaltener Band, den als Sonderausgabe der Zeitschrift „M asses ouvrie- res” die katholische Jungarbeiterbewegung Frankreichs (JOC) kürzlich herausgab Er enthält, aus allen Teilen des Landes gesammelt, Berichte, Darstellungen und Beobachtungen von Jungarbeitern, die mitten in der Streikbewegung standen. Hier werden keine pathetischen Reden wiederholt, noch sind es laute Beridite, aber Heldentaten, die das kleine bewegliche Leben des jungen Proletariers zeichnen, der mitten drinnen stand, aber nach Recht und Vernunft zu urteilen und zu handeln bestrebt war.

Im lothringischen Kohlenbecken flackerten die ersten Streiks auf. Hier wie überall versuchten die kommunistischer. Agitatoren, mit einem Überrumplungsmanöver zum Ziele zu kommen. Das Volk selbst soll sprechen und handeln. In den Fabriken und Betrieben soll die Arbeiterschaft in öffentlicher Abstimmung mit erhobener Hand ihre Meinung kundgeben. Gedankenlose und Feiglinge werden kaum wagen, dagegen zu sein. Da werden Stimmen laut, eh überhaupt Streikgelder bezahlt werden. Noch denken die Älteren an jene schwere Zeit des Jahres 1936, als sie nach mühseligen Wochen, die Hunger und Elend brachten, als Unterlegene bedingungslos kapitulieren mußten wie ein geschlagenes Heer. Niemand wagt, daran öffentlich zu erinnern. Da redet sich die Gestalt eines jungen Arbeiters hodi, er meldet sich zum Wort und redet zu seinen Kameraden in der ihnen vertrauten Sprache, in jenem Argot, den sie alle verstehen. Wer ist es? — Ein Jocist. Er spricht nicht gegen ihre Interessen. Nein, sie kennen ihn alle. Er hat auch hungernde Geschwister und Freunde, die gleich ihm am Samstag sorgfältig das Lohnsäckchen bis zum letzten Sous mit Sorgfalt untersuchen, die paar Francs genau zählen und nachrechnen, wie viele Tage der Woche sie reichen können. Er fordert Gerechtigkeit, Verständnis, aber auch dazu eine echte demokratische Abstimmung, die sich nicht mit einer trügerischen Scheinlösung zufrieden gibt — eine geheime Abstimmung in voller Freiheit. Und dieser junge Mann setzt sich durch. Das Ergebnis gibt ihm und seinen Gesinnungsgenossen in den meisten Fällen recht.

Die Berichte erzählen jedoch auch von terroristischen Ausschreitungen, von vielfacher Anwendung von Brachialgewalt, von vernichteten Stimmzetteln, um das tatsächliche Ergebnis zu verschleiern, aber auch von richtigen Erfolgen, welche diese jungen Menschen, ganz auf sich gestellt, erreichten. Sie zeigen der Öffentlichkeit, daß es neben der materiellen auch eine geistige Not gibt, die diese junge christliche Arbeiterschaft zu lösen versucht. Die vielfältigen Rapporte ergeben immer wieder den einen Beweis, daß diese jungen Männer innerlich so klar und reif sind, daß sie nicht nur das Schicksal der Arbeiterklasse verstehen, sondern auch imstande sind, in entscheidenden Augenblicken den richtigen Weg zu zeigen. Wenn nun so manche hier berichtete Vorkommnisse nur von lokaler Bedeutung waren, so zeigte sich doch durch die Haltung der einzelnen Jocisten das Heraufkommen einer jungen verantwortungsbewußten Arbeitergeneration.

So haben die Jocisten in der Region von Paris seit Jahren schon gute geistige Arbeit geleistet. Was soll mit den vielen Jungarbeitern in den Tagen des unnützen Flanierens und Bummelns geschehen? Eigene Komitees der Jungarbeiter werden geschaffen. Die Kameraden sollen erfahren, worum es geht, was für den Arbeiter getan werden muß und nicht zuletzt dürfen diese Tage und Wochen für sie nicht verloren sein. Es wird ernste Aufklärungsarbeit getan und daneben wird gespielt, gelacht, gesungen und eine kleine Jazz spielt zu dem so beliebten „grand bal” auf. Wozu sollten sie sich in den Spelunken mit Haß und Streit das Leben vergällen lassen? Die Jugend muß sich selbst den Weg suchen. Wenn der Ernst herantritt, dann weiß sie auch das richtige Wort und die entscheidende Tat zu finden. Allerdings hat sie auch einen energischen Kampf zu führen mit jenen Gutmütigen und Feigen, die es nie wagen, offen ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Und hier gehen die Forderungen der Jocisten auch an die eigenen Reihen, an jene scheinbar Gutgesinnten, die glauben, sich mit den Tatsachen des Augenblicks abfinden zu müssen und doch in der Entscheidung schwach bleiben. Auch an den Klerus wenden sie sich, der nach ihrer Meinung noch viel zu wenig auf die Gläubigen einwirke, „um ihnen die Notwendigkeit vor Augen zu halten, ihre Verantwortung in den kleinen Dingen des alltäglichen Lebens zu zeigen, daß sie den Arbeitskampf in seiner heftigsten Form, den Streik, gut bestehen können.” Das ist das Christentum der Jocisten.

In den Well- und Textilfabriken haben die Frauen und Mädchen ihren eigenen Kampf aufgenommen. Überall in Paris und Umgebung hatte die Mehrzahl gegen den Streik gestimmt, aber die Minderheit war schlagkräftiger und geordneter. Einige wenige vermögen die Arbeit zum Stillstand zu bringen. Ein Mädchen zeigt die gemachten Fehler auf: „Wir müssen die jungen Menschen von solchen aus ihrer Mitte führen lassen und nicht von einigen bezahlten kommunistischen Agitatoren!” Sie stellt dazu die Frage: „Warum haben wir keine gefestigte Organisation von Frauen und Mädchen auf unserer Seite, wie drüben die Union des Femmes franęaises (UFF)?”

In den östlichen Provinzen Frankreichs hatte die christliche Gewerkschaft in Verbindung mit den Jocisten an ihrem Hauptsitz in Straßburg ein klares soziales Achtpunkteprogramm aufgestellt, das eine reale Verhandlungsbasis darstellte. In der Gegend von Montbeliard, wo die großen Peugeot- Fabriken liegen, waren die Kommunisten anfangs ziemlich in der Minderheit. Die Unentschlossenheit der nichtkommunistischen Arbeiterschaft verschaffte ihnen jedoch bald die Oberhand. Bürgerliche Kreise und viele Unternehmer bekamen es mit der Angst zu tun und wollten sich nach allen Seiten sichern. Geschäftsleute unterstützten die Streikagitatoren und verhandelten zugleich mit den christlichen Gewerkschaften. Als aber das Ärgste gebannt zu sein schien, sind Zusagen wie Versprechungen vergessen und sie tun so, als ob nichts gewesen und nicht verhandelt worden wäre. — Das sind wohl die besten Agitatoren für den Kommunismus selbst.

Am längsten dauerte der Streik in Marseille, zweiundzwanzig Tage. Hier gab es mehrere Tote und zahlreiche Verwundete. Achtzigtausend Arbeiter waren im Ausstand und blieben ohne Unterstützung der Gewerkschaften. Bettelnd zogen viele in die karge Umgebung zu den Bauern um Lebensmittel. öffentliche Ausspeisungen verschiedener Organisationen, vor allem der französischen Karitas, der „Secours catholique”, suchten die Not zu lindern, doch wie wenig konnte für die viele Not getan werden. Das hereinbrechende Elend hatte eine große Entmutigung in der Arbeiterschaft zur Folge. Zahlreiche Austritte aus den Gewerkschaften und die Bildung von neuen Organisationen war das Ergebnis, nachdem die früheren Arbeiterführer immer-mehr an Ansehen verloren hatten. Die Arbeiterschaft mußte erkennen, daß sie zum Spielball von politischen Streitigkeiten geworden war, in denen die Parteien deren mißliche Lage für ihre Zwecke auszunützen versuchten. So konnte es geschehen, daß in einer Versammlung von sechstausend Dockarbeitern ein Jocist das Wort ergreifen konnte und es ihm gelang, die Mehrheit auf seine Seite zu bringen und bestimmend im Streikkomitee für Besonnenheit und sachliche Verteidigung der Arbeiterinteressen zu wirken.

In Bordeaux gelingt es einer redegewandten Jungarbeiterin, eine geheime Abstimmung herbeizuführen. Auch von hier wird hervor- gehoben, daß eine weitgehende Unkenntnis der Arbeiterschaft in wirtschaftlichen Fragen herrsche, unklare Forderungen der Streikagitatoren, wilde Gerüchte, die in die Welt gesetzt wurden, und Debatten ohne sachliche Überlegung, die sich auf die Brachialgewalt von einzelnen oder von Gruppen stützten, die Lage verwirrten.

Eine achtzehnjährige Textilarbeiterin aus Rouen erzählt, daß sie trotz der Furcht des Fabrikbesitzers sich die Schlüssel geben ließ und unerschrocken die Tore öffnete, um die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit .aufzurufen. Die politischen Streikhetzer fallen über sie her, man schlägt und beschimpft sie, zerreißt ihr die Kleider, aber der Bann ist gebrochen. Die Arbeitswilligen strömen auf ihren Arbeitsplatz, die Mehrheit läßt sich in erfolgreiche Verhandlungen ein und die Arbeit beginnt.

Die Leitung der JOC selbst hatte zu Beginn der Streikbewegung offiziell Stellung genommen. Da heißt es:

„Wir können es nicht zulassen, daß man berechtigte Ansprüche der Arbeiter. mißbraucht, um Streiks vom Zaune zu brechen, die politische Ziele bezwecken. Die Arbeiterschaft muß ihre Aktion selbst in der Hand haben. Die Arbeiter dürfen nicht zulassen, daß man ihnen Entscheidungen vorlegt, die ohne ihnen oder gegen sie getroffen wurden. Man kann ihnen nicht einen Streik auferlegen, ohne sie verständigt zu haben, oder gar gegen ihren Willen handeln. Ein solches Mittel kann nur durch sie selbst angewendet werden. Aber eine solche Entscheidung muß freiwillig, nach vorhergehender Überlegung und ohne Druck von irgendeiner Seite her vollzogen werden.”

Von vieler und zäher Kleinarbeit, von großen Enttäuschungen, aber auch von einem unbeirrbaren Mut zum Kampf um die Seeledes Arbeiters berichten die zweihundertund- sechzehn Seiten dieses Bandes, den die JOC

herausgegeben hat.

Nach einem Monat war der Streik, in dem politische Kräfte zweifellos vorhandene wirtschaftliche, aber nicht mit Arbeitsniederlegung wirksam zu bekämpfende Notstände mißbrauchten, beendet. Die Jocisten hatten in diesem schweren Ringen überall die Sache der Arbeiterschaft verfochten, aber durch ihre verantwortungsbewußte Haltung der Besonnenheit zum Siege verholfen und, wo politische Leidenschaften die Lage ver-

wirrten, die wirtschaftliche Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Unternehmen entgiften geholfen. Diese organisierte katholische Jungmannschaft hatte sich in harter Erprobung trotz ihrer Minderzahl als ein Faktor des sozialen Lebens bewährt.

Diese Jungarbeiter wollen ihre Kameraden gewinnen. Sie kennen deren Not und leiden selbst darunter. Sie ringen aber aus christlicher Verantwortung um die Verteidigung der menschlichen Würde.

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