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Christus kam nur bis Eboli

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Carlo Levis „Christo sl e fermato a Eboli“, in der ersten Ausgabe Turin 1947 erschienen, gehört zu 'den eigenartigsten Nachkriegsbüchern Europas. Levi, von Haus aus Oberitaliener, Arrt und Maler — In der gegenwärtigen Wiener Ausstellung moderner italienischer Maler ist auch er vertreten —, wurde vom faschistischen Regime in Kalabrien konfiniert. Das „Con-fine“, die politische Verbannung in ein abgelegenes, unwirtliches Territorium hat der Faschismus von den alten Römern übernommen. Was dieser aufmerksame Beobachter aber in den Bergwüsten seines süditalienischen Gastlandes vorfindet, ist älter als „Rom“, älter als die antikische und christlich-humanistische Kultur Europas, ist ein seltsam unerlöstes Heidentum, daP sich ein gewisses christliches Brauchtum eingewandet hat. — Levi ist nicht Christ. Seine Bemerkungen zu seinen Beobachtungen stimmen deshalb auch nicht immer mit christlicher Weltanschauung überein. Seine Beobachtungen selbst aber sind von einer kühlen Klarheit, von einem monumentalen Reiz, von einer Eindruckskraft, die sein Werk mit Recht zu einem der interessantesten und bedenkenswertesten der neuen europäischen Literatur machen. „Die österreichische Furche'

Für die Menschen Lukaniens bedeutet

Rom nichts: es ist die Hauptstadt der Signori, der Mittelpunkt eines fremden und verhängnisvollen Staates. Neapel könnte ihre Hauptstadt sein und ist es auch wirklich, die Hauptstadt des Elends, mit den bleichen Gesichtern, den fieberglänzenden Augen seiner Bewohner, mit den Kellergeschossen und ihren wegen der Hitze im Sommer offenen Türen; aber in Neapel gibt es schon seit langer Zeit keinen König mehr, und man geht dorthin nur, um sich einzuschiffen. Das Königreich ist zu Ende: dos Reich dieser Menschen ohne Hoffnung ist nicht von dieser Welt. Die andere Welt ist Amerika. Auch Amerika hat für die Bauern eine Doppelnatur. Es ist ein Land, wo man hingeht, um zu arbeiten, wo man schwitzt und sich anstrengt, wo das bißchen Geld unter tausend Mühen und Entbehrungen gespart wird, wo man manchmal stirbt und keiner sich mehr unser erinnert; aber gleichzeitig und nicht im Widerspruch dazu ist es das gelobte Land des Königreichs. Weder Rom noch Neapel, sondern New York würde die wahre Hauptstadt der lukanischen Bauern sein, wenn diese Menschen ohne Staat jemals eine solche haben könnten. Und New York ist es auch in dem für sie einzig möglichen, nämlich im mythologischen Sinn. Durch seine zwiefache Natur ist es als Ort der Arbeit gleichgültig; man lebt dort wie anderswo auch, wie Tiere, die an einen Karren geschirrt sind, wobei es gleich ist, durch welche Straße man diesen ziehen muß; als Paradies dagegen, ja, da kann man es nicht berühren, sondern nur anschauen, ohne sich damit zu vermischen. Die Bauern gehen nach Amerika und bleiben dort, was sie sind: viele gehen nicht wieder weg und ihre Kinder werden Amerikaner. Die andern jedoch, die, welche nach zwanzig Jahren zurückkehren, sind genau die gleichen wie bei ihrer Abreise. In drei Monaten vergessen sie die wenigen englischen Worte; die wenigen überflüssigen Gewohnheiten werden abgelegt, und der Bauer ist der gleiche wie vorher, so wie ein Stein, über den lange Zeit das Wasser eines vollen Stromes dahingeflossen ist, unter den ersten Sonnen strahlen in wenigen Minuten trocknet. In Amerika leben sie abseits, unter sich, sie nehmen nicht am amerikanischen Leben teil, essen weiter durch Jahre hindurch wie in Gagliano nur Brot und sparen die paar Dollars. Dann kommen sie eines Tages nach Italien zurück in der Absicht, nur kurz zu bleiben, sich auszuruhen und Verwandte und Gevattern zu begrüßen; aber da bietet ihnen jemand ein Stückchen Land zum Kauf an, und sie finden ein Mädchen, das sie als Kind kannten, heiraten es, und so vergehen die sechs Monate, nach deren Ablauf die Erlaubnis, nach drüben zurückzukehren, erloschen ist, und sie bleiben im Vaterland. Das gekaufte Land ist sehr teuer, 6ie haben es mit den gesamten Ersparnissen, die sie in langjähriger Arbeit in Amerika zusammengescharrt hatten, bezahlen müssen, und es besteht doch nur aus Lehm und Steinen; man muß die Steuern zahlen, und die Ernte ist nicht die Ausgaben wert; es kommen Kinder, die Frau ist krank, und im ganz kurzer Zeit ist das Elend wieder da, das gleiche ewige Elend wie damals, als sie vor vielen Jahren abgereist waren; und mit dem Elend kehren auch die Resignation, die Geduld und all die alten bäuerlichen Gebräuche wieder. In kurzer Zeit unterscheidet sich dieser Amerikaner in nichts mehr von den andern Bauern als durch eine größere Bitterkeit und den zuweilen aufsteigenden Schmerz um ein verlorenes Gut.

Die Bauern von Gagliano begeisterten sich nicht für die Eroberung Abessiniens, erinnerten sich nicht an den Weltkrieg und sprachen nicht von ihren Toten; ein Krieg jedoch lag allen am Herzen und lebte, schon zur Legende, zur Fabel, zur epischen Erzählung, zum Mythus abgewandelt, in aller Munde; nämlich die Brigantenkämpfe. Der Krieg der Briganten war praktisch 1865 zu Ende; es waren also Jahrzehnte vergangen, und nur ganz wenige, uralte Leute konnten als Teilnehmer oder Zeugen dabei gewesen und imstande sein, sich persönlich dieser Kriegszüge zu entsinnen. Aber alle, Alte und Junge, Männer und Frauen, sprachen davon mit einem unmittelbaren und lebendigen Gegenwartssinn wie von etwas, das gestern geschehen war. Wenn ich mich mit den Bauern unterhielt, konnte ich sicher sein, daß wir, was immer auch Gegenstand unseres Gesprächs war, sehr bald irgendwo uf die Briganten zu sprechen kommen würden. Alles erinnert an sie: es gibt keine Berge, Abgründe, Wälder, Steine, Quellen oder Höhlen, die nicht mit irgendeiner ihrer denkwürdigen Unternehmungen verknüpft sind oder ihnen nicht als Zuflucht oder Schlupfwinkel gedient haben. Es gibt keine versteckte Stelle, die sie nicht als Unterkunft benutzt, kein Kapellchen im freien Feld, in dem sie nicht ihre Drohbriefe niedergelegt und, das Lösegeld erwartet haben; die einzelnen Stellerl heißen, wie der Bersaglierigraben, nach ihnen und ihren Taten. Es gibt keine Familie, die nicht für oder gegen die Briganten Partei genommen, nicht irgendein Mitglied bei ihnen draußen in der Wildnis gehabt oder jemanden beherbergt oder verborgen hätte. Mit wenigen Ausnahmen waren die Bauern alle auf seiten der Briganten, und mit der Zeit sind deren Unternehmungen, die ihre Einbildungskraft so lebhaft beschäftigten, unlöslich mit den vertrauten Verhältnissen des Ortes verknüpft und mit der gleichen Selbstverständlichkeit Gegenstand des täglichen Gesprächs geworden wie Tiere und Geister; die Legende hat sie vergrößert, und sie haben die unumstößliche Wahrheit des Mythus angenommen. Ich will hier kein Lob des Brigantenwesens anstimmen. Vom historischen Gesichtspunkt aus kann das Brigantenwesen innerhalb des italienischen Risorgimento nicht verteidigt werden. Aber für die Bauern ist das Brigantentum etwas ganz anderes. Betrachtet man es nur vom obigen Standpunkt aus, dann kann man es nicht nur nicht rechtfertigen, sondern überhaupt nicht verstehen. Übrigens fällen auch die Bauern kein Urteil darüber und verteidigen es nicht, und wenn sie mit solcher Leidenschaft davon sprechen, so rühmen sie sich doch seiner nicht. Seine geschichtlichen Hintergründe und die damit verquickten Interessen der Bourbonen oder der Feudalherren kennen sie nicht. Auch für sie ist es eine traurige, trostlose und entsetzenerregende Geschichte. Doch es liegt ihnen am Herzen; es gehört zu ihrem Leben, ist der poetische Hintergrund ihrer Phantasie, ihr düsteres, verzweifeltes, schwarzes Epos. Auch das Ansehen der Bauern erinnert noch heute an die alte Vorstellung vom Räuber: finster, verschlossen, einsam, mürrisch, mit schwarzem Hut und Gewand und im Winter mit einem schwarzen Mantel und immer mit Flinte und Axt bewaffnet, wenn sie aufs Feld gehen. Ihr Herz ist milde und ihr Gemüt geduldig. Das Gefühl für die Eitelkeit aller Dinge, für die Macht des Schicksals und Jahrhunderte voller Entsagung und voller Ergebung in ihr Los lasten auf ihnen. Aber wenn, nach ihrem unendlichen Erdulden, an den Grund ihres Wesens gerührt wird und ihr elementarer Sinn für Gerechtigkeit und Widerstand erwacht, dann kennt ihr Aufruhr keine Grenzen und kein Maß. Dann wird der Aufstand unmenschlich, er geht vom Tode aus und kennt nur den Tod, und aus der Verzweiflung entsteht wilde Grausamkeit. Die Briganten verteidigten Freiheit und Leben der Bauern grundlos und hoffnungslos gegen den Staat, gegen alle Staaten. Leider geschah es ihnen, daß sie unbewußt zum Werkzeug der Geschichte wurden, die sich außerhalb ihrer Umwelt und gegen sie abspielte. Aber durch das Brigantentum verteidigte die bäuerliche Kultur ihre eigene Art gegen die andere, ihr entgegengesetzte Kultur, die sie, ohne sie zu begreifen, dauernd unterjocht: deshalb sehen die Bauern instinktiv in den Briganten ihre Helden. Die bäuerliche Kultur ist eine Kultur ohne Staat und ohne Heer: ihre Kriege können nichts anderes sein als gelegentlich aufflammende Aufstände, die naturgemäß stets zu furchtbaren Niederlagen werden; trotzdem geht ihr Leben immer weiter; sie gibt den Siegern die Früchte ihres Bodens und setzt ihre Maße, ihre Erdgötter und ihre Sprache durch.

„Wir sind keine Christen“, sagten die Bauern Lukaniens, „Christus ist nur bis Eboli gekommen.“ Christ bedeutet in ihrer Ausdrucksweise Mensch; und der sprichwörtliche Satz, den ich hundertmal habe wiederholen hören, ist in ihrem Munde wohl nichts anderes als der Ausdruck eines trostlosen Minderwertigkeitskomplexes. „Wir sind keine Christen, keine Menschen, wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere, als Lasttiere und noch geringer als Tiere und Koboldwesen, die doch ihr freies, teuflisches oder engelhaftes Dasein leben; denn wir müssen uns der Welt der Christen jenseits unseres Horizonts unterwerfen, ihre Last und ihren Widerspruch ertragen.“ Der Satz hat für sie nicht nur symbolischen

Ausdruckswert, sie nehmen ihn aoeh buchstäblich. Für sie ist Christus wirklich nur bis Eboli gekommen, wo Straße und Eisenbahn die Salernitaner Küste und das Meer verlassen und in das öde lukanische Land eindringen. Christus ist niemals bis hieher gelangt, ebensowenig wie die Zeit, die individuelle Seele, die Hoffnung oder das Band zwischen Ursache und Wirkung, wie die Vernunft und die Geschichte. Christus ist nicht bis hieher vorgedrungen, wie auch die Römer nicht bis hieher vorgedrungen waren, welche die großen Straßen beherrschten, aber sich von den Bergen und Wäldern fernhielten, ebensowenig wie die Griechen, welche am Meer die blühenden Städte Metapont und Sybaris bewohnten. Keiner der kühnen Männer des Westens hat bis hieher den Sinn für die sich wandelnde Zeit, seine Staatstheokratie oder seinen ewigen, sich selbst noch steigernden Tatendrang gebracht. Niemand hat diese Erde berührt, es sei denn als Eroberer oder als Feind oder als verständnisloser Besucher. Die Jahreszeiten gleiten über die Mühsal der Bauern dahin, heute wie dreitausend Jahre vor Christi Geburt; keine menschliche oder göttliche Botschaft wurde an die halsstarrige Armut gerichtet. Wir reden eine andere Sprache: unsere Worte sind hier unverständlich. Die großen Entdecker haben die Grenzen ihrer eigenen Welt nicht verlassen; sie haben die Pfade ihrer eigenen Seele, die Wege des Guten und Bösen, der Moral und der Erlösung durchlaufen. Christus ißt in die unterirdische Hölle hinabgestiegen, um dort die Pforten der Zeit aufzubrechen und sie in Ewigkeit zu versiegeln. Aber in dieses düstere Land ohne Sünde und ohne Erlösung, wo das Übel nicht moralisch, sondern nur irdisches Leid ist, das ewig den Dingen anhaftet, ist Christus nicht herabgestiegen. Christus ist nur bis Eboli gekommen.

(Mit Bewilligung des Europa-Verlages Wien—Zürich)

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