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Chronik der Revolution

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J917 — TAGEBUCH DER RUSSISCHEN REVOLUTION. Von Xikolmj Nikolajewltsch Suchanow. Ausgewählt, übertrafen und herausgegeben von Nikolaus Entert, Vorwort Ton Iring Fetsohe r. Verla; R. Piper & Co., München, 1987. 785 Seiten. DM 85.—.

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J917 — TAGEBUCH DER RUSSISCHEN REVOLUTION. Von Xikolmj Nikolajewltsch Suchanow. Ausgewählt, übertrafen und herausgegeben von Nikolaus Entert, Vorwort Ton Iring Fetsohe r. Verla; R. Piper & Co., München, 1987. 785 Seiten. DM 85.—.

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Ein unentrinnbares Schicksal des russischen Volkes, eine gleichsam göttliche Zuchtrute — so sah der russische Philosoph Ndkolaj Berdjajew den Bolschewismus, der vor 50 Jahren seine Herrschaft über das größte Reich der Erde antrat. Eine solche fatalistische Sicht des totalitären Herrschaftssystems, dessen ideologische Wurzeln im Marxismus-Leninismus, dessen gesellschaftliche Voraussetzungen aber (und damit im Widerspruch zur ursprünglichen Interpretation des Marxismus) in den spezifisch rückständigen, halbfeudalen Strukturen des Zarenreiches lagen, hält einer genauen Prüfung der historischen Fakten nicht stand. Zu viele Ergebnisse vor allem des Schicksalsjahres 1917 hingen vom fast zufälligen Zusammentreffen verschiedener Umstände und Persönlichkeiten ab, als daß im Durchbruch des säkularisierten Mes-Rianismus zur Macht in Osteuropa ein historisch notwendiges, objektiv determiniertes Ereignis erblickt werden könnte. Je genauer man die historischen Einzelheiten in den Griff bekommt, desto deutlicher wird, daß das Schicksal des modernen Rußland kein unentrinnbares war.

Nikolaj Nikolajewitsch Himmer — Suchanow war sein politisches und literarisches Pseudonym — war unmittelbarer Beobachter der weltbewegenden Ereignisse des Jahres 1917 in Petersburg. Er war aber nicht nur Beobachter, er war auch revolutionärer Akteur. Ursprünglich unabhängiger Sozialist, schloß er sich 1917, als Mitglied des Exekutivkomitees des Petersburger Sowjets, den „internationalistischen Menschewiken“ um Martow an, also dem linken Flügel der rechten Sozialdemokraten. Suchanows Aufzeichnungen der Ereignisse zwischen Februar-und Oktoberrevolution sind für die Geschichtsschreibung ein besonderer Glücksfall: Zur Perspektive des Augenzeugen tritt die Perspektive des Engagierten, der sich, obwohl ideologisch voreingenommen, immer eine gewisse kritische Distanz zu den Geschehnissen bewahren konnte. Die Distanz war eine Folge der weitgehenden fraktionellen Unabhängigkeit Suchanows, sie läßt sich aber auch daraus erklären, daß Suchanow seine Chronik erst 1918 begonnen und 1921 abgeschlossen hat: Der zeitliche Abstand war dem sachlichen förderlich.

Suchanows Darstellung ist das vollständigste unter den existier? den Zeugnissen über die Eskalation der russischen Revolution vom Sturz des Zarismus bis zur bolschewistischen Diktatur. Im Westen waren die Memoiren Suchanows unmittelbar nach dem Erscheinen im Mittelpunkt des Interesses.

Obwohl Suchanow „nur“ Memoiren, überaus subjektiv skizzierte Memoiren, bietet, errichtet er eine historische Bühne von gewaltigen Dimensionen; eine Bühne, auf der die Hauptdarsteller Kerenskij, Lenin und Trotzki heißen; auf der der Revolutionsbarde Gorkij neben dem Konterrevolutionär Kornilow agiert; auf der ein Stalin (S. 239: „Stalin aber machte während des ganzen Verlaufs seiner bescheidenen Tätigkeit im Exekutivkomitee, und zwar nicht nur auf mich, den Eindruck eines grauen Flecks, der sich manchmal dumpf regte, aber keine Spuren hinterließ. Mehr gibt es über ihn im Grunde nicht zu sagen.“) und ein Molotow als Nebendarsteller schemenhaft vorbeihuschen. Es ist eine historische Bühne, auf der eine Revolution in geradezu modellhaftem Ablauf dargestellt wird: Daß innerhalb weniger Monate aus der reaktionärsten Großmacht der Welt eine Macht wird, die sich in erklärtem Gegensatz zju allen bisher herrschenden gesellschaftlichen Systemen stellt und mittels einer Weltrevolution nach der Weltherrschaft greift — diese rasende, sich überschlagende Entwicklung zeigt beispielhaft, wie sehr zentrifugale Tendenzen in einer Revolution, die wirklich Revolution im Sinn einer totalen Umwälzung des Bestehenden ist, alle Versuche überspielen, in der Mitte der Revolution haltzumachen. Diese Eigengesetzlichkeit, dieser Mechanismus der Revolution lassen alle Prognosen, die eine solche Entwicklung nicht einkalkulieren, zur grauen Theorie werden.

Der Marxist Suchanow ordnet diese Flut der Ereignisse nach marxistischen Grundsätzen; er sieht die Februarrevolution als ein nach dem Entwicklungsstadium der russischen Gesellschaft nowendiges und daher erstrebenswertes Geschehnis; er sieht aber auch, daß dieser „bürgerlichen“ Februarrevolution eine „sozialistische“ Revolution nicht hätte folgen dürfen — weil die Entwicklung zwar reif für eine „bürgerliche“, nicht jedoch für eine „sozialistische“ Demokratie war. Und hier, in dieser für einen Marxisten elementaren Frage, unterscheidet sich Suchanow von den Bolschewiken, mit denen er sonst überall übereinstimmt. Gerade aber im Erfolg des Oktoberumsturzes, der nach der Doktrine der Schriftgläubigen unter den Marxisten (wie Suchanow einer war) noch gar nicht hätte kommen dürfen, erweist sich die Blutleere eines schematischen Marxismus. Über alles Theoretisieren triumphierte 1917 der brutale Aktivismus Lenins, dessen Persönlichkeit aus dem Geschichtsablauf nicht wegzudenken ist, der zuerst handelte und dann erst das Erreichte theoretisch einzuordnen versuchte. Ein durch eine außergewöhnliche Verkettung besonderer Umstände ermöglichtes, von einigen wenigen, extrem durchschlagskräftigen Personen vorange-triebens Handeln erwies sich allen „wissenschaftlichen“ Einsichten in die notwendigen gesellschaftlichen Tendenzen überlegen. „Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich finden“ — es war diese Maxime Lenins, nach der die Bolschewiken vorgingen und so die Welt erschütterten.

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