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Chronik, Posse, Komödie

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In unserem Zeitalter des Kollektivismus führt die Bühne fast ausschließlich den Durchschnittsmenschen vor. Es entgehen ihr dadurch eine Fülle wesentlicher Probleme. Shaws dramatische Chronik „Die heilige Johanna“, die derzeit in einer Neuinszenierung im Burgtheater wiedergegeben wird, ist wohl das bedeutendste seit dem ersteh Weltkrieg entstandene Bühnenwerk. Außerordentliches wird da im Menschen Ereignis.

Konfuzius unterschied sehr klar zwischen dem höheren und dem niederen Menschen. Hier wird das siebzehnjährige Mädchen aus Lothringen, eben weil es Großes vollbrachte, von den niederen Menschen zu Fall gebracht, getötet, und erst ein Vierteljahrhundert später setzt sich das Außerordentliche ihrer Erscheinung durch. Die Meisterschaft dieser szenischen Chronik ist mit Recht immer wieder gerühmt worden, besonders aber packt es, daß hier Shaw, dem man den Rationalisten in vielen Szenen, ja, in einzelnen den Spötter anmerkt, eben das spezifisch Heilige in Johanna sichtbar macht Mehr noch: Er stellt im Heiligen das Höchste dar, dessen der Mei Dichter.

Der Bühnenbildner Lois Egg umgibt die Spielfläche in allen Szenen mit einer niederen, mauerartigen Umrahmung, die aus Anthrazitplatten zu bestehen scheint. Das Thronzimmer deutet ein Sitz, das Schlafzimmer ein Bett an. Kurt Meiseis Regie zeichnet sich durch eine treffliche Führung der Schauspieler aus, so daß mehrere von ihnen merkbar weiter entwickelt werden. Elisabeth Orth glaubt man als Johanna die Schlichtheit des Landmädchens, das Soldatische, nicht aber die religiöse Inbrunst, das Visionäre. Boy Gobert charakterisiert vorzüglich das Weichliche, Haltlose des Dauphins und späteren Königs, ohne diese Jammergestalt zur Karikatur zu entarten. Unter den zahlreichen Mitwirkenden bieten Paul Hoffmann, Erich Auer, Fred Liewehr, Klaus- Jürgen Wussow, Ed Stavjanik einprägsame Gestalten.

Im Akademietheater gab es die Uraufführung einer tragischen Posse „Die Wirklichkeit und was man dagegen tut“ von Lotte Ingrisch. Der Titel gemahnt an Philosophisches, denn die Wirklichkeit, die der einfache Mensch kurzerhand hinnimmt, erscheint dem tieferen Denken höchst problematisch. Aber Lotte Ingrisch verstrickt sich nicht in Theoreme: es geht ihr um die Veränderung der Wirklichkeit durch Illusionen.

Die Steuerberaterswitwe Valerie Ratzensamt kostümiert sich in Schmähtandlers Leihanstalt als reiche Kommerzialrätin, der Flickschneider Krk als General, die Geldgier treibt sie, einander zu ehelichen und den Partner gleich in der Hochzeitsnacht zu vergiften. Illusion steht gegen Illusion, das heißt: sie heben sich gegenseitig auf, und die „Wirklichkeit“ sind jene Gefilde, aus denen die beiden beim Souffleurkasten wieder auftauchen.

Lotte Ingrisch bekennt sich dazu, daß ihr das „Kriminöse“, komisch und schwarz, Spaß mache. Aber macht es auch uns Spaß? Die Einbettung ins Pratermilieu hat viel für sich, der Autorin schwebte merkbar das Makabre, Gespenstige, Unwirkliche vor, das der Vorstellung „Prater“ anhaftet. Zweifellos ist die Sache mit der Hochzeitsnacht wirksam, aber die Auffüllung mit weiteren Gestalten und überyielen Ge- sangsnummem bleibt dünn. Auch spürt man allzusehr Vorbilder von Nestroy über Brecht und Artmann bis zu Thornton Wilder. Die Anregungen, die sich die Autorin von daher holte, wurden leider nicht packend genug umgesetzt.

Gustav Manker tat als Regisseur sein Möglichstes, Ernst Fuchs erfüllte als Bühnenbildner nicht die in ihn gesetzten Erwartungen. Das Mörderpaar war mit Susi Nicoletti und Hanns Obonya trefflich besetzt, Käthe Gold konturierte eine Drehorgelfrau nicht scharf genug. Die Musik von Ernst Kölz wirkte zuwenig eigenständig.

Die Menschheit anzuklagen, hätten wir heute alle Veranlassung, Alceste in Moliėres „Menschenfeind“, den das Berliner Schloßparktheater im Theater an der Wien vorführte, freilich haßt und schmäht die „Menschenbrut“ nicht wegen ihrer Verbrechen, sondern wegen viel Geringerem, wegen der Falschheit, die sich selbst in die Höflichkeit einnistet. Da er aber diesen Haß so sehr übersteigert, da ihm Nachsicht, deren wir alle bedürfen, fremd ist, setzt er sich ins Unrecht. Er verdrängt wohl dieses Gefühl,

wodurch ihm die Lust zu schmähen zu einer verbissen-schmerzlichen Lust, ja, zur Strafe wird. Denkt man an die Abgründe, die sich in der heutigen Menschheit auftun, erhöht sich der Reiz dieses Spiels um verhältnismäßig harmlose Schwächen.

Das Schloßparktheater bot unter der Regie von Hans Schweikart eine vorzügliche Aufführung, die vor allem durch die stärkere Spannung im Spiel der norddeutschen Schauspieler im Vergleich zur Wiener Darstellungsart beeindruckte. Die damenhafte Eva-Katharina Schultz verband als Cėlimėne Koketterie mit Klugheit und Charme, Erich Schellow gab dem Alceste die aufbrausende Heftigkeit des Fanatikers. Ein nahezu allzu schlichtes Bühnenbild von Filippo Sanjust hatte den Vorteil, daß die prunkvollen Kostüme besonders zur Geltung kamen.

Mag es das Venedig überschäumender Lebenslust, der Galanterie, der Liebesabenteuer, einer sich ständig überkollernden Festeslaune längst nicht mehr geben, mag die Nüchternheit unseres eigenen Lebens und Herzens von solch einem Dasein bloßgelegt werden, so viel

Sehnsucht darnach ist in uns, daß Goldonisanmutige Welt quirlendster Bewegung nach wie vor zu bezaubern vermag. Das gilt besonders für die Komödie „Der Diener zweier Herren“, die Giorgio Strehler, der künstlerische Leiter des Mailänder Piccolo Teatro,in seiner frühesten Inszenierung des Stücks vor dreizehn Jahren im Burgtheater vorführte. Sie war von der bekannten Aufführung durch Max Reinhardt angeregt worden, griff aber noch weiter auf die Darstellungsart der Commedia dell’arte zurück.

Inzwischen hat Strehler seine Inszenierung mehrfach erneuert, die neueste szenische Gestaltung war, wie das Gastspiel der Berliner, im Theater an der Wien zu sehen, doch konnten keine entscheidenden Änderungen gegenüber früher festgestellt werden. Wieder bewunderte man die Präzision in der scheinbar improvisierten Turbulenz der Vorgänge, die Fülle der Einfälle, die Rasanz der Bewegung. Arlecchino, die Zentralgestalt des Spiels, wird nun von Ferruccio Soleri mit nicht geringerer akrobatischer Gelenkigkeit als seinerzeit von Moretti verkörpert. Diese Spitzenleistung europäischen Theaters bleibt unerreichbar.

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