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Claudels großes Mysterienspiel

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Seit zwei Jahren ringen die führenden Wiener Bühnen mit dem Entschluß, das Monumentalwerk des führenden christlichen Dichters Frankreichs der österreichischen Öffentlichkeit zugänglich und bekannt zu machen. Das Burgtheater stellte den „Seidenen Schuh“ auf sein Programm, ohne sein Versprechen bis heute einzulösen, die Insel begann mit dem „Bürgen“. Wie wird nun die Verwirklichung des großen Vorhabens im dritten Jahr der Planungen aussehen? Da es sich hier um die Einlösung einer großen Verpflichtung handelt, die nicht sorgfältig ernst und verantwortungsvoll genug erwogen werden kann, sei diese Betrachtung an den Ausklang des alten Jahres gestellt — eine Mahnung, Besinnung und Zuruf für den Einklang des Neuen Jahres. „Die Furche“

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Seit zwei Jahren ringen die führenden Wiener Bühnen mit dem Entschluß, das Monumentalwerk des führenden christlichen Dichters Frankreichs der österreichischen Öffentlichkeit zugänglich und bekannt zu machen. Das Burgtheater stellte den „Seidenen Schuh“ auf sein Programm, ohne sein Versprechen bis heute einzulösen, die Insel begann mit dem „Bürgen“. Wie wird nun die Verwirklichung des großen Vorhabens im dritten Jahr der Planungen aussehen? Da es sich hier um die Einlösung einer großen Verpflichtung handelt, die nicht sorgfältig ernst und verantwortungsvoll genug erwogen werden kann, sei diese Betrachtung an den Ausklang des alten Jahres gestellt — eine Mahnung, Besinnung und Zuruf für den Einklang des Neuen Jahres. „Die Furche“

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Gelegentlich sollten die Theaterkritiker auch die Präventivkritik ausüben. Wenn irgendwo bei uns „Der Bürge“ Claudels aufgeführt wird, dann müßte doch gesagt werden, daß er nur der erste Tag einer Trilogie ist und als zweiter und dritter Tag „Das harte Brot“ und „Der erniedrigte Vater“ unlöslich dazugehören. Auch der Dichter hat ja das Menschenrecht, ganz angehört zu werden, und die Zuschauer und Hörer haben das Recht, nicht nur ein Drittel von dem zu hören zu bekommen, was der Dichter zu sagen hat. Claudels Revolutionstrilogie ist erst verständlich, wenn der grandiose Bogen sichtbar wird, den er über das 19. Jahrhundert gezogen hat, der von 1789 bis 1870 reicht. „Der Bürge“ für sich allein ist freilich ein so glänzendes Theaterstück mit Prachtrollen, daß auch Theater, die er eigentlich nichts angeht, gern nach ihm greifen. Aber die Christenheit von heute geht er wirklich an, er greift sie n '^m-lich an, weil sie immer noch nicht begriffen hat, in welcher Zeit sie lebt.

Damals, vor dem ersten Weltkrieg, glaubte Claudel noch an die Monarchie. Seine Trilogie lehrt, daß der Revolutionsheld, der Denunziauc und Mörder seiner geistlichen Väter, der Ordensbrüder, zu denen er einst gehörte, der später auch die Revolution verrät und Paris dem neuen König übergibt, logischer- und unblutigerweise im zweiten Stück durch seinen eigenen Sohn ermordet werden muß, den Nihilisten. Dieser Sohni ist der Gesandte Frankreichs beim Vatikan im Jahre 1870, trägt entscheidend mit bei zum Verlust des Kirchenstaates und macht so Frankreich und die ganze bürgerliche Welt an diesem Sturz der geistlichen Ordnungsmadit nach dem der weltlichen mitschuldig. Die Heldin des „Bürgen“, die fromme Aristpkratin, muß

sich selber opfern durch die Heirat mit dem Revolutionshelden, um den Bürgen der Ordnung, den gefangenen Papst, zu retten und damit Paris kampflos dem neuen König übergeben werden kann. Die blinde Enkelin, eine der schönsten Frauengestalten Claudels, zahlt die Sühne für das ganze Geschlecht, wenn ihr das blutige Haupt des Geliebten, des Papstneffen, im Blumenkorb übergeben wird.

Von dieser schaurigen Tragödie unserer Zeit kann der Zuschauer nichts ahnen, wenn ihm nur der Triumph der Gemeinheit im ersten Stück vorgeführt wird. Wenn man nicht die ganze Revolutionstrilogie kennt, kann man auch nicht mit dem Dichter die wirkliche Not unserer Zeit miterleiden, daß ihr die rettenden Ordnungsmächte fehlen.

Der Claudel der letzten Trilogie: „Der seidene Sdiuh“ ist noch weit über den Meister von damals hinausgewachsen. Ihm geht es zunächst nicht mehr am Frankreich, sondern um die Sendung der Christenheit für d i e g a n z e W e 11. Er ist solange Gesandter in Ostasien und Amerika gewesen, daß ihm die Weltmission und der Weltfriede das größte dichterische Anliegen geworden sind. Da wir alle miteinander nidit wissen, wie Friede ge m a cht werden soll, möchten wir wenigstens von dem großen Dichter hören, wie er ihn sich denkt.

„Der seidene Schuh“ ist nach antiker Poetik eine Trilogie mit Satyrspiel, eine Tristantragödie mit zwei Tristanen, von denen der eine verloren geht und der andere gerettet wird. Aber der Gerettete muß erst noch die Tragikomödie des Weiterlebens nadi dem Tode der geliebten Frau erleiden.

Nach der mittelalterlichen Poetik aber ist „Der seidene Schuh“ ein Mysterienspiel, und zwar genauer ein Mirakel, wie Claudels „Mariae Verkündigung“, nicht eine Moralität wie der „Jedermann“ oder Claudels „Kolumbus“, bei dessen „Umarbeitung“ zu einer Oper von Werner Egk gerade nur die theaterwirksamen Äußerlichkeiten übernommen wurden, aber nicht der symbolische Gehalt, daß nämlich die Entdeckung der anderen Welt für jedermann eine Aufgabe sei, die Gewinnung der „anderen Welt“. Das Wunder des „Seidenen Schuhs“ ist, daß die Heldin Proeza zwei schwere Versuchungen besteht und damit das ewige Heü für sich und Don Rodrigo gewinnt, weil sie den seidenen Schuh Maria geweiht hat — und daß wir ihr und dem Diditer das Wunder glauben können. Darauf muß sich also die Spannung richten. Leider ist der Charakter des Mysterienspiels in dem deutenden Nachwort der glänzenden deutschen Nachdichtung von Urs von Balthasar nicht hervorgehoben.

Ein Mysterienspiel ist auch Goethes * „Faust“, aber wenn nur die Gretchen-tragödie gegeben und das Vorspiel und Nachspiel im Himmel gestrichen wird, merkt es niemand. Er soll freilich zugleidi Osterspiel, Moralität und Mirakel sein, und das heißt, er ist in Wirklichkeit nur Mittelalterromantik, nicht ernsthaft religiöse Dichtung. Der Gottvater des Vorspiels kann auch als Erdgeist aufgefaßt werden, die Madonna des Nadispiels ist nur das ewig Weibliche, das uns hinanzieht, und Meplii-stopheles ist weder ein Magier noch ein wirklicher Teufel, er ist nur die private Gemeinheit und im zweiten Teil Macchia-vellist. Im „Seidenen Schuh“ fehlt zwar der Bariton, der die Stimme Gottes spricht, und auch der wirkliche Teufel, aber der Schutzengel ist da und das Sternbild San Jagos, und die unbefleckte Empfängnis leuchtet als Retterin auf. Aber es gibt einen wirklichen Dämon und bösen Geist, Don Camillo, den Nihilisten, den Renegaten, den Intriganten und Terroristen, den Folterknecht, den auch die erzwungene Ehe mit der Heldin nicht zu erlösen vermag und auch nicht das Kind Siebenschwert. Un-erlösbar aber ist er wegen der Sünde gegen den Heiligen Geist, die Verhärtung, die schwerste Sünde unserer Zeit, die am nötigsten der Liebe bedarf.

Man muß sich nicht dadurch beirren lassen, den „Seidenen Schuh“ als Mysterienspiel aufzufassen, daß Claudel, um den französisdien Klassizismus zu bekämpfen, sein Stück als spanisdies Hof- und Festschauspiel, wie Calderons „Uber allem Zauber Liebe“, gegeben hat, als großes Barocktheater mit aufwendigster Maschinerie, mit Kino und modernster atonaler Musik Milhauds. Diese expressionistische Kühnheit soll nur das klassizistische Eintags- und Einszenariumsgesetz durchbrechen. Ein ganzes Jahrhundert soll durcheinandergewirbelt werden von der Entdeckung Amerikas über den Untergang der Armada bis zur Schladit von Lepanto und am Weißen Berge bei Prag, damit ein gewaltiges Symbol unserer eigenen Zeit mit ihren .Weltkriegen und unserer Friedensstiftung entsteht. Es soll ja gerade audi die große christliche spanijdie Monardiie in ihrer Vergänglichkeit und Peripetie gezeigt werden, weil es ja um etwas ganz anderes geht, um die Gewinnung des ewigen Heils, wie sie das Thema der Divina Commedia, von Calderons „Welttheater“ und sogar des ganzen „Faust“ ist. Ja, die Franzosen v haben nun auch ihren „Faust“ mit dem „Seidenen Schuh“. Und so wie der Held Rodrigo Cäsar und Alexander an seiner Schulter spürt, könnte auch Claudel sagen, daß er Goethe nicht nur mit der Diditer-statur an die Sdiulter reicht. Wie der „Faust“ Goethes Glaubens- und Lebensbekenntnis ist, so hat auch Claudel, freilich sehr verhüllt, sein letztes dichterisdies Selbstbekenntnis in seinem Opus mirandum abgelegt. Von seinem genialen Jugendwerk an, der „Mittagswende“, hat er immer wieder die tragische Liebe als Weg zum Heil und zur ewigen Liebe gefeiert.

Aber nun sei endlich kurz und hödist unpoetisch die heroische Liebestragödie des „Seidenen Sdiuhs“ erzählt. Die junge Proeza ist dem alternden Don Pelayo vermählt worden. Aber sie hat die Stimme Don Rodrigos gehört. Alle Verführungskünste Don Camillos sind gänzlich vergeblich. In der Furcht, daß sie der Stimme des Geliebten folgen könnte, weiht sie der Madonna den einen seidenen Sdiuh, um so nur hinkend dem Ruf der Sünde folgen zu können. Wie sie sidi doch blutig und zerrissen durch Domengestrüpp zum verwundeten Rodrigo durchkämpft, das ist großes spanisches Theater, und wie sie von Don Pelayo an der Ehre gepackt wird, die Wache über den Verräter Don Camillo auf der Felseninsel Mogador vpr Afrika zu übernehmen, um durdi diesen königlichen Auftrag die ehebrecherische Liebe zu überwinden, das ist spanisches Ethos und spa-nisdier Geist. Der königliche Auftrag für Rodrigo aber ist die Kultivierung der Neuen Welt, Amerika, zu der ihn nur die unendliche Sehnsucht nach dci Geliebten wie ein verzehrendes Feuer im Fletzen befähigt. Das erstemal treffen sich die getrennten Liebenden wieder, da Rodrigo Proeza aus der afrikanischen Verbannung ho'en soll, aber nun weiß sie - schon, daß der Größe ihrer Liebe nur di? ewige Liebe genug tun kann, die den Geliebten mit in das selige Leben emporreißt, und sie besteht die Versuchung. Nur der Mond ist elegisch genug, um den irdischen Jammer der getrennten Herzen zu besingen. Nach dem Tode Don Pelayos vermag Camillo Proeza zur Ehe zu zwingen. Sie kann nur einen Brief an Rodrigo um Hilfe senden, dessen Ankunft aber ihr Sdiutzengel als Gegengabe für ckn seidenen Schuh zehn fahre lang verhindert. Inzwischen hat Rodrigo den Weg über die Panamaenge für Schiffe gefunden, er hat die Philippinen erobert und sieht die Mis-sionicrung Chinas und Japans vor sich. Ihm erschließt sich die Einheit der Weh als Mannesaufgabe der klugen Tat und als Sendung der Christenheit. Als ihn der Brief endlidi erreicht, ist es schon zu spät für die irdisdie Vereinigung. Proeza steht in weißem Haar vor ihm und besteht die zweite Versuchung. Im Erleiden der Not ihrer erzwungenen Ehe, in Erfüllung ihres Wächteramtes über den Verräter Camillo, ist sie gereift. Im Gespräch mit ihrem Schutzengel lernt sie die kurze Zeit der möglichen irdischen Vereinigung mit ihrem Geliebten zu opfern für die ewige Gemeinschaft mit ihm in Gott. Sie übergibt Rodrigo das Kind Siebenschwert und kehrt zu ihrem Gatten zurück, der sie und sich in^die Luft sprengt.

„Ein sonderbares Mysterienspiel“, werden die ängstlichen Kritiker sagen, „in dem zwei Ehebrüche des Herzens durch zwei bestandene Versuchungen gesühnt werden können.“ „Etiani Peccata“, auch die Sünden sind ein Weg zum Heil, ist das Motto des Spiels, und „Gott schreibt gerade auch auf krumme Linien“. Eine andere große Dichtung, „Kristin Lavranstochter“, lehrt dasselbe: alle Feuer brennen langsam aus, Haß und Haßliebe und irdisdie Liebe, nur die große Liebe brennt ewig. Es ist die Weisheit des Alters, die Claudel verkündet. Wir leben nicht mehr in der Zeit der mittelalterlichen Mysterienspiele, die sozusagen halbliturgisch die sieghafte Überwindung der Sünde durch Christus selber zeigten. Unaufhaltsam ist die Tiefenpsychologie in die Dichtung und Literatur ein-gebrodien, und in allzu vielen Romanen und Dramen gibt es nur noch Trieb- oder Angstbesessene und kaum mehr vernünftige Mensdien. So kann auch christliche Dichtung die Gewalt der Triebe nicht unter-sdilagen, aber es kommt darauf an, ob die Versuchungen bestanden werden durch die Macht der Ehre, des Geistes, des Glaubens und der göttlichen Liebe.

Der letzte Tag des „Seidenen Schuhs“ ist eine wundervolle Gestaltung der politischen Weisheit Claudels voll gütigen Humnrs und feiner Ironie. Er beginnt mit der Seibätrechtfertigung des Politikers Claudel, daß er auch ein Dichter sei, sofern Rodrigo, der abgesetzte Vizekönig von Amerika, mit einem Japaner zusammen Heiligenbilder malt, etwas in surrealistischem Stil. Aber schon braucht der König von Spanien Rodrigo wieder, weil die Armada unterwegs ist und verfrühte Siegesmeldungen die Ernennung des Statthalters für England dringend erscheinen lassen. Aber Don Rodrigo will nicht, und so soll ihn eine Schauspielerin als Maria Stuart für die Aufgabe gewinnen. Er geht auf das Spiel ein und entwidtelt vor dem König und dem Hof seinen Plan, England endgültig zu gewinnen, indem man ihm Nordamerika als Kolonie überlasse. Mittlerweile kommt die Nachricht vom Untergang der Armada, der Verrat Rodrigos am spanischen Imperialismus scheint erwiesen, er wird einem Soldaten als Sklave verkaufr, der ihn schließlich der Bettclnonne als Küchendiener überläßt.

Nebenher aber läuft der Kampf der jungen Siebenschwert um den Vater, um ihn als Führer eines Kreuzzugs oder wenigstens einer Karitaskampagne zum Loskauf der christlichen Sklaven in Afrika zu gewinnen. Aber Rodrigo folgt auch der vergötterten Tochter nicht. So geht sie zu Don Juan d'Austria, das heißt sie schwimmt zu ihm auf sein Admiralschiff, um ihn als Page zum Sieg von Lepanto zu begleiten, wobei freilich ihre erste Kreuzzugsgefährtin ertrinkt. Der Kanonenschuß, der die Ankunft Siebenschwerts auf dem Flaggsdiiff meldet, schließt das Opus mirandum.

Daß der letzte christliche König der Dichtung, Philipp II. von Spanien, in diesem Nachspiel der Komik ausgeliefert wird, ist hart, besonders da er gerade um die Zeit, als Claudel den „Seidenen Schuh“ dichtete, von 1919 bis 1924, seine große Ehrenrettung erfuhr. Claudel glaubt nicht mehr an die Monarchie. Er sieht die Tragik des Sieges und der Sieger und gestaltet sie erschütternd in der Szene des Abends nach der Schlacht am Weißen Berge, an dem Donna Musika in St. Nikolaus in Prag um den Frieden betet und die heiligen Patrone Deutsddands, Rußlands und Frankreichs von ihren Piedestalen steigen und von ihrer schweren Schutzherrschaft über ihre ewig unmündigen Völker sprechen. Claudel glaubt nur noch an die reife, leidgeprüfte Menschlichkeit, an die Klugheit, dem Partner und besiegten Feind zu geben, was er braucht, und an die heilige Sendung der Kunst, den magischen Zirkel der Leidenschaft, der Dummheit und des Hasses zu sprengen.

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