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Da fiel mir der Stak aus der Hand

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Was es für seltsame Menschen gibt! Welche Begabungen, aber auch welche Fehler sie haben! Oder sollte es wirklich so schwer sein, den geraden Weg zu gehen, so wie er uns gepredigt wird? O Menschenherz, wer kann deine Abgründe durchleuchten, wenn nicht dein Schöpfer. Wir verstehen die Widersprüche des menschlichen Herzens nicht, wir brauchen auch nicht zu richten. Er möge uns allen gnädig sein.

Der Mann, von dem ich erzählen will, war mittelgroß und dunkel, dem Alter nach stand er zwischen vierzig und fünfzig, also dort, wo ein Mann anfängt, nachdenklich zu werden. Der Größe nach war er genau das, was die Polizei mittelgroß nennt. Ich traf ihn zum ersten Male, als ich am Sonntag vor Mittag auf der Prornenade am Waldrand spazierenging. Er saß auf einer Bank, hatte ein Buch in der Hand und las halblaut einen Text.

Um ihn nicht zu stören, aber auch um zu hören, blieb ich stehen und vernahm die bekannten Worte: „Du bist, der niemals Sonntag hat. Wenn bei uns Mühle steht und Säge und alle trunken sind und träge, dann hört man deine Hammerschläge und alle Glocken in der Stadt.“

Als er eine- Pause machte, hustete ich und ging an ihm vorbei. Er beachtete mich nicht weiter, und ich hörte hinter mir seine Stimme: „Du Gott, ich möchte viele Pilger sein, um so, ein langer Zug, zu dir zu gehen und um ein großes Stück von dir zu sein: der Garten mit den lebenden Alleen.“

„Das ist auch kein Spießer“, dachte ich,

„schade, daß ich ihn nicht kenne. Er scheint ein Fremder zu sein, ein Dichter, Künstler oder Sonderling.“

Am nächsten Sonntag, nach der Messe, ging ich wieder zur Waldpromenade. Diesmal stand er an eine Föhre gelehnt, hielt ein anderes Buch in der Hand und sprach die Stelle aus dem Römerbrief: „Ich weiß nicht, was ich tue, denn ich tue nicht, das ich will, sondern vas ich hasse, das tue ich. So tue i c h dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnet. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnet nichts Gutes. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will. So ich aber tue, das ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnet. Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstrebt dem Gesetz in meinem Gemüte. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“

Ich ging näher zu ihm heran und sagte: „Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Morgenandacht störe.“

Er lachte: „Guten Morgen, Herr Pfarrer. Entschuldigen Sie, daß ich Sie imitiere. Hoffentlich sehen Sie darin keine Beleidigung.“

„Im Gegenteil, ich habe mich über die Lesung gefreut.“

„Ich komme manchmal in die Messe, aber nicht immer, sondern so, wie es mich gerade treibt.“

Ich antwortete nicht, sondern dachte bei mir: „Also doch ein Sonderling.“

„Ich lebe in Unfrieden mit der Kirche“, sagte er.

Da er sich in ein Gespräch mit mir einließ, begann ich zu fragen:

„Glauben Sie an Gott?“

„Ich würde früher an mir selber zweifeln als an ihm.“

„Lieben Sie ihn?“

„Wie sollte ich ihn nicht lieben?“

„Sie sind freireligiös und wollen sich in eine kirchliche Gemeinschaft nicht einfügen?“

„Im Gegenteil. Ich liebe Bauerngottesdienste und bete mit ihnen den Rosenkranz.“

Ich dachte nach.

„Aber uns Priester können Sie nicht leiden?“ fragte ich.

„Im Gegenteil, ich habe wunderbare Menschen unter ihnen getroffen. Fragen Sie weiter.“

„Mir fällt nichts mehr ein. Sie sind ein religiöser Mensch.“

Da fiel er schnell ein: „Ja, ich bin religiös, aber meine Moral ist anders als Ihre. Da gehen unsere Wege auseinander.“

Er führte mich zur Bank, wir setzten uns und ich wartete auf seine Erzählung.

„Haben Sie eine Ahnung, warum so wenig Männer in die Kirche gehen, ich meine Männer zwischen zwanzig und fünfzig?“

„Es wird wohl mehrere Gründe dafür geben.“

„Gewiß. Aber einer ist der Hauptgrund. Sie können das nicht halten, was ihr von ihnen verlangt und doppelgeleisig wollen sie nicht leben, also bleiben sie aus.“

„Verlangt die Kirche zuviel?“

„Ja. Sie verlangt im Grunde soviel, daß wir es nicht leisten können.“

„Aber sie verzeiht doch auch.“

„Sie verzeiht nichts Vorsätzliches. Darf ich Ihnen meinen Fall vorlegen?“ „Bitte, tun Sie es.“

„Ich war drei Jahre eingerückt, ein Jahr galt ich als vermißt. Als ich heimkam, hatte meine Frau einen andern. Aber sie ließ ihn in Stich und wir lebten beisammen, bis ich daraufkam, daß ihr Geliebter sich heimlich mit ihr traf. Da habe ich Schluß gemacht. Das dürfte ich nach der kirchlichen Moral nicht tun, obwohl es nach dem Evangelium anders aussieht. Aber lassen wir das. Da ich von der Frau getrennt lebte, hätte ich keine andere ansehen dürfen. Nun bin ich aber normal und gesund und halte das natürlich nicht aus.“

.Haben Sie eine andere geheiratet?“

„Nein, das habe ich nicht getan, aber ich lebe in einem freien Verhältnis mit einer Frau.“

Das dürfen Sie nicht.“

„Ich weiß es. Ich dürfte, um von der Kirche Absolution zu erhalten, nur dieses tun: nicht mit Vorbedacht mit einem Weibe beisammen leben, sondern jedesmal neu in Sünde fallen und bereuen und so durchs Leben humpeln. Ich kann das nicht, es erscheint mir als Unrecht. Ich Itialte der Frau die Treue und gehe lieber nicht zu den Dirnen. Aber dafür wird mich kein Priester lossprechen. Oder ich müßte, das hat mir einmal einer gesagt, wie Bruder und Schwester mit dieser Frau leben. Das kann ich nicht, dazu bin ich zu jung. Und noch etwas, ich kann es nicht bereuen. Mir geht es wie Mohammed, von dem es heißt, er liebte Wohlgerüche, die Frauen und das Gebet. Legen Sie mir das nicht als Lästerung aus. Ich bin religiös, aber nicht moralisch in Ihrem Sinne. Gestehen Sie es ein, es gibt keinen Ausweg für mich nach diesen Voraussetzungen?“

„Nein“, sagte ich leise und traurig.

Da stand er auf, nickte mir mit schimmernden Augen zu und ging fort. Ich weiß, es war ein Fehler von mir, daß ich ihn nicht zurückhielt. Ich hätte ihm nachlaufen und ihn zurechtweisen sollen. Aber ich blieb wie gebannt auf der Bank sitzen und sah das Schicksal vieler Männer vor mir, das seinem gleicht. Macht mir keinen Vorwurf, daß ich an ihm nicht wie ein Hirt gehandelt habe, sondern den Stab sinken ließ und in Traurigkeit verfiel.

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