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Da war ein Wiener Straßenbahner...

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Über die Gegenwart des Jahres 1921 spannte sich ein heißer, träger Sommer. Der riesige Leib der Donaumonarchie war auseinandergefallen, Fäulnis und ein Heer von Parasiten veränderten ihre einzelnen Glieder, weithin dunstete der Geruch von Armut, Tod und Wollust. Wien, blind und trüb und grau geworden, schien nur vom Hunger und vom Speku-lantentum zu“ leben. Vom Hunger zu leben — ja, das hatte die Stadt gelernt. Ohne Wissen der Eltern war ich, noch Gymnasiast, hergekommen von München über Garmisch und Innsbruck, wo ich Bergtouren zu machen vorgab; indes lockte mich nicht die gesunde Luft Tirols, sondern die vergiftete Schwüle des tragischen Basars, auf dem gerade ein Stück Europa ausverkauft wurde. Daß ich selbst in Gefahr war, mich an diesem Ausverkauf zu beteiligen, indem ich die mir überkommenen Güter zu verschleudern, gute Manieren gegen schlechte, löbliche Vorsätze gegen tadelnswerte, sittliche Ideale gegen sinnliche einzutauschen begann, war mir damals nur sehr dunkel bewußt; daß es aber nicht schlimmer kam, habe ich der Hilfsbereitschaft und der Rechtlichkeit eines Wiener Trambahnschaffners zu danken, der mich in seine bescheidene Wohnung aufnahm, als er eines Nachts an einer Haltestelle der Leopoldstadt mit mir ins Gespräch gekommen war. Ich hatte nämlich, mittellos und zu stolz, nach Hause zu schreiben, in diesem Bezirk Quartier genommen, eine lichtlose Kammer, die zu einer Wirtschaft letzten Ranges gehörte. Der Trambahner erlaubte mir nicht, dort zu bleiben; auch fand er, ich müsse arbeiten, statt nutzlos umherzu-streichen: zu viele solcher Vögel gebe es in Wien, und aus dem Elend sich zu befreien, jetzt, da die Freiheit angebrochen sei, könne nur geschehen durch gute Taten und den Glauben an die Zukunft. Der Mann war, wie sich erraten läßt, Sozialdemokrat; er öffnete mir den Blick in eine neue Welt, das heißt, in die Rückseite der alten, konservativen, hierarchischen, deren Vortrefflichkeit bis dahin für mich ebenso selbstverständlich erwiesen war wie für ihn deren Unerträglichkeit. Er verabscheute die Habsburger und verurteilte selbst Kaiser Franz Joseph; er hielt die Revolution für einen Segen und die Kirche für eine Gefahr, kurz, er stellte, wie es mir schien, alle Werte auf den Kopf. Und doch war er ein guter und redlicher Mensch, ein besserer sicher, als ich es damals gewesen bin; ich folgerte daraus, daß nicht alles falsch sein könne, was er sagte, und daß jedenfalls seine Motive untadelig seien — gleichwohl scheiterte ich im Bemühen, unsere beiden Anschauungen zu vereinen. Doch habe ich damals einen tiefen Respekt vor der moralischen Kraft des Sozialismus gelernt und die Achtung vor fremder Meinung; bis dahin war ich in diesen Dingen gleichgültig.

Die Stadt Wien zeigte sich nun in einem etwas anderen Licht. Zwar konnte auch der Schaffner das lähmende Grau, das fast alle ihre Häuser und Bewohner verschattete, nur selten aufhellen, und nicht einmal das schmutzig-dunkle Rot der Trambahnen, die nicht Fahrgäste, sondern zusammengepferchte Gefangene zu transportieren schienen, nicht einmal dieses Rot vermochte er mir in die Vorstellung der hoffnungsträchtigen und drohenden Revolutionsfarbe zu verwandeln — aber er führte mich ein in den Kreislauf der Arbeiter und kleinen Leute, in die kleine Ordnung derjenigen, die die große beseitigt hatten, während seine Mutter mich lehrte, wie ähnlich die Natur aller Mütter sei, der armen und der reichen, der rechten und der linken. Sie vergibt keine Privilegien, es seien denn die der Schönheit und der Güte; schon die Klugheit ist eine Gabe minderen Ranges.

Nach gemessener Zeit fuhr mich mein Trambahner die Mariahilfer Straße hinauf zum alten, rußigen Westbahnhof; mein Gelegenheitsverdienst, mehr der Lohn für Gefälligkeiten, Laufburschenaufträge, wirkungsvoll geschriebene Briefe, Abrechnungen, Schriftsätze als für produktive Arbeit, reichte hin für ein Inflationsbillett nach Salzburg und den Kauf eines Füllfederhalters, der in jenen Tagen noch geltungsreicher Besitz gewesen ist. Ich ließ ein Wien hinter mir, das das verderbte und schimmelnde Zerrbild der Kaiserstadt war, deren Strahlen vorgestern noch ein weites Reich vergoldet hatten, und ein zweites, hinter dessen ärmlicher Fassade sich kaum merklich eine ungewisse Zukunft regte.

Graz 1936

Fünfzehn Jahre später — in Deutschland herrschten Diktatur, Barbarei und Wohlstand — machte ich mich mit dem Fahrrad auf, um im Staate Schuschniggs neue Lebensmöglichkeiten zu suchen.

Graz, obwohl schon von den rü-pelnden Vorboten des kommenden Unheils gelegentlich heimgesucht, verführte den suchenden Wanderer durch die merkwürdig selbstverständliche Schönheit seines städtischen Gefüges, dessen Architektur nirgends die erlaubten Maße verletzt; es gibt weder Gepräge noch Gedränge, und mühelos vollzieht sich die Besitznahme der Stadt durch den Fremden. Ein Hauch Balkan überweht sie von Süden, spürbar auf den weiträumigen Plätzen am rechten Flußufer mit ihren niedrigen Häuserzeilen und einem ländlich-lebhaften Verkehr. Herrengasse und Opernring geben sich großstädtisch; doch befindet sich Graz in einer Situation, die solche Allüren unnötig macht. Wie es Menschen gibt, die sich nicht klassifizieren und einer bestimmten Gruppe zuordnen lassen, so gibt es Städte, die sich dem entziehen — entweder, weil sie zuwenig oder weil sie zuviel der geforderten Merkmale haben. Graz ist ein eigentümlicher Fall zauberischer Unbestimmbarkeit; fast unwirklich mischen sich die Elemente, die pannonischen und die alpinen, die bäuerlichen und die industriellen, die kleinstädtischen und die hauptstädtischen; aber alle bleiben erkennbar.

Nicht mehr wie einst nach Wien, abenteuernd und mittellos, war ich diesmal nach Österreich gekommen; aber doch war die monatliche Summe sehr bescheiden, mit der ich zu leben hatte. Im Vorort St. Peter fand ich Unterkunft; es war ein Verschlag im Speicher eines freundlichen Hauses, das von vier Parteien bewohnt wurde. Der Speicher diente als Trockenraum für Heil- und Gewürzkräuter, von deren Sammlung und Verkauf eine rüstige Alte ihr bescheidenes Leben fröhlich fristete. Freilich besaß sie noch einen kleinen Garten und ihren Enkel, der von seinem Arbeiterlohn zum Haushalt ein Weniges beitrug. Wieder erfuhr ich hier das Nebeneinander von althergebrachter Sittenstrenge und revolutionärem Zukunftsglauben; der politische Radikalismus und die moralische Idylle schlössen sich keineswegs gegenseitig aus. Diese seltsame Spalrungskrankheit des menschlichen Bewußtseins ist dann von , den nationalsozialistischen Gewalthabern systematisch gefördert und bis zur völligen Vergiftung des gutgläubigen Kleinbürgertums, dessen re-putierliche Prinzipien nicht leicht aus der Welt zu schaffen waren, gesteigert worden. KZ-Mörder waren zärtliche Familienväter, gefürchtete NS-Richter feinsinnige Musikliebhaber, brutale SS-Führer weichherzige Tierfreunde und der gewöhnliche SA-Mann das schiere Vorbild an hausbackener Gemütlichkeit. Hatten diese Leute nicht alle ein prächtiges Alibi? Konnte ein solches Regime schändlich sein? Das war es eben: die Reputierlichkeit als Alibi, Beethoven als Alibi — da Wieb kein schlechtes Gewissen.

In Graz wurden die Verhältnisse allmählich unerfreulich. Die Zusammenstöße mehrten sich, Drohungen und Erpressungen schüchterten die Bevölkerung ein. Noch wurden Regierung und Behörden der organisierten Horden Herr, aber die Erfahrung aus dem Reich ließ das äußerste befürchten. In der Steiermark und in Kärnten kam zur landeseigenen Vorliebe für vaterländische Gebräuche, die von den Nationalsozialisten geschickt ausgenutzt und fanatisiert wurde, ein aus den Volkstumskämpfen herrührender großdeutscher Rausch hinzu, dem auch das bis dahin ruhige und sonst vernünftige Bürgertum, ganz besonders aber die Lehrerschaft und die akademische Jugend, verfielen. Und so vollendete sich das Schicksal Österreichs ein zweites Mal innerhalb einer Generation — der Staat wurde ausgelöscht, zu einer Grenzprovinz erniedrigt und selbst der Name getilgt, als bedeute er Schande und Schimpf.

Ich bin, meine Hörer, mit Ihnen überzeugt, daß die Entwicklung der Dinge in Österreich allein nie hätte verhindert werden können, es sei denn, die Österreicher wären nicht Österreicher, sondern Schweizer gewesen, und ich weiß auch, daß meine kriti-

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