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Dämonen in Stadt und Dorf

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DER ZEITPLAN. Roman. Von Michel B u t o r. Biederstein-Verlag, München. 349 Seiten. Preis 16.80 DM.

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DER ZEITPLAN. Roman. Von Michel B u t o r. Biederstein-Verlag, München. 349 Seiten. Preis 16.80 DM.

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Gerade hundert Jahre ist es her, seit Baudelaire die Stadt als Inkarnation des kunstvoll Künstlichen, als Werk des Geistes feierte, und weniger als fünf Jahrzehnte sind vergangen, seit Apollinaire sie rühmte. Was mußte nicht alles geschehen, zusammengedrängt in den Raum einer einzigen Generation, daß heute ein Meister des „Nouveau Roman“, Michel Butor, das extrem Böse in die Stadt hineinschaut!

Die Handlung: Ein Franzose, der Erzähler des Romans, arbeitet ein Jahr in der britischen Industriestadt Bleston. Vom ersten Augenblick an empfindet er Bleston als feindliche Macht, die ihm zusetzt, die ihn unterdrückt und ihn schließlich, als er sich auflehnt, zerstören will. Als Gescheiterter, der die Liebe zweier Frauen, der sein Selbstvertrauen verlor und ein Jahr seines Lebens verspielte, verläßt er England.

Im achten Monat seines Aufenthaltes beginnt er, um sich über die sonderbaren Zwischenfälle, die seine geistige und physische Existenz in Bleston in,Frage stellen, klarzuwerden, zu notieren, was in dem Zweidritteljahr seit seiner Ankunft geschah. Er merkt, daß er damit nicht auskommt, und fügt alsbald dem Vergangenheitsbericht laufend Tagebuchaufzeichnungen über die jeweils jüngsten Ereignisse hinzu. Doch sein Erkenntnisdrang fordert, daß er diesen beiden Zeitebenen eine dritte angliedert: eine Erlebniskette, die aus der Gegenwart Schritt um Schritt in die Vergangenheit zurücksteigt, wo sie eines Tages (wie der hervorragende Übersetzer Helmut Scheffel auseinandersetzt) mit der ersten linearen Berichtskette Zusammentreffen wird. Immer noch entgehen ihm Beziehungen, Affinitäten zwischen Menschen, Dingen und Geschehnissen, die von eminenter Bedeutung sind: er führt eine vierte Zeitebene ein, indem er Folgerungen aus der Lektüre der bisherigen Notizen zieht und schriftlich fixiert, und zuletzt noch eine fünfte, als er anfängt, die Summe der Erfahrungen, die er durch das Schreiben, das Lesen des Geschriebenen und durch vergangene und neue Erlebnisse gewinnt, zur Sinnkorrektur aller bisherigen Texte zu verwenden. Mit diesen fünf Zeitdimensionen schafft er sich einen Apparat von äußerster Präzision, ein Radargerät, dem nichts entgeht.

Auf den Radarschirmen der fünf Zeitebenen erscheinen Menschen, Dinge, trost

gefolgt vom Theseus-Mythos auf den Wandteppichen des Museums, aber auch ein Kriminalroman ist abzulesen, an dessen Autor ein Mordversuch verübt wird, Kulturfilme spielen über die Sichtflächen, Brände flammen auf, ein wandernder Jahrmarkt etabliert sich als Sonderbühne voll doppelbödigen Geschehens, und über allem und durch alles, was ist und was geschieht, schiebt sich die böse, mörderische Luft Blestons, angefüllt mit Ruß und Kohlenstaub wie mit tödlichen Geschossen. Aus all diesen unzählbaren Details aber erhebt sich, immer deutlicher, immer faszinierender, immer lähmender, die grausige Fratze eines Ungeheuers: Blestons, des Stadtdämons. Des Dämons, der den Menschen, die ihn schufen und bewohnen, vampirhaft das Blut aus den Adem, das Mark aus den Knochen saugt, sich durch seine Opfer selbst zerstörend.

Dieser Inhalt macht den Roman zu einem exemplarischen Dokument einer Peripetie des Menschheitsgeschicks, projiziert in das Schicksal eines passiven Helden, der seinerseits zum facettenreichen Spiegel des Kollektivs wird. Daß dieser passive Held, der Erzähler des Buches, ein Intellektueller, indem ihm die Stadt zum teuflisch beseelten Dämon wird, das gleiche tut wie unsere Vorfahren in Jahrzehntausenden, als sie die Natur find ihre Erscheinungen mit Göttern, Geistern, Feen und Kobolden bevölkerten, ist aufschlußreich im doppelten Sinn. Einmal dafür, daß sich im Unbewußten, in der Animawelt des Menschen, aus der solche Projektionen stammen, zumindest seit der Zeit, aus der die ersten nachweisbaren Kulthinweise stammen, wesensmäßig nichts geändert hat, zum zweiten dahingehend, daß der Mensch der Gegen-

wart, dessen Animapotenzen nicht durch Religion und Kommunikation mit dem Göttlichen stehen, zwangsläufig von vorne beginnen muß. Daß der Autor, von dem (ebenfalls im Biederstein-Verlag) der Roman „Paris—Rom oder die Modifikation" deutsch herauskam, solche Phänomene inmitten unserer Superzivilisation sichtbar werden läßt, macht, neben seiner Bemühung um neue Variationen der Romanform, den charakteristischen Vorzug dieses Buches aus.

DIE WOLFSHAUT. Roman. Von Hans Lebert. Claassen - Verlag, Hamburg. 448 Seiten. Preis 19.80 DM.

In bewußt legerer Sprache baute hier Hans Lebert, ein Angehöriger der jüngeren österreichischen Schriftstellergeneration, einen Roman von epischer Breite. Aus überreicher, nie versiegender Quelle gespeist, ist die an sich einfache Handlung mit zahllosen Metaphern und Gedankenbildern, mit Reflexionen und Assoziationen ausgestattet. Ohne der Modekrankheit des experimentellen Zeit-Raum- Spiels zu verfallen, sind Zeit und Raum flexible Größen, deren Verwandlungen inmitten des unaufhaltsam abrollenden Geschehens Momente zusätzlicher geistiger Spannung schaffen.

„Drinnen lag die Leiche des Erschosse-

nen, begraben unter der dichten Erde desso auch unter anderem mit Rolland, Jacob- Schweigens, und die eine, die tödliche, aus einem Jagdgewehr stammende Kugel hatte man aus ihrem Herzen fortgezaubert. — Also gut! Die Sache war damit erledigt. (Die Gendarmen konnten bleiben, wie Sie waren.) Aber sonst war leider nichts erledigt. Noch immer gab es haufenweise Holz zu fällen; und immer wieder war man auf dem. Weg nach Hause, auf diesem Weg, der stets der gleiche blieb, der bis zum Tod der gleiche bleiben würde: immer wieder am Ziegelofen vorbei." In solcher Diktion, die den. Autor in fast jedem Satz als spöttischen Kritiker des Geschehens und der Menschen ausweist, ist das ganze Werk verfaßt.

Es geht um dumpfe Untaten, die während des Krieges in einem Dorf geschahen und sich in neuer, böser Dumpfheit fortsetzen. Das Bild der Dörfler ist allzu scharf, es ist mit städtischem Witz, mit einem sardonischen (wenn auch aus verwundetem Herzen stammenden) Grinsen gezeichnet und kommt dadurch um jene letzte innere Wahrhaftigkeit, die eine Dichtung zugelassen hätte. Das Sardonische ist nun einmal keine Basis zur Weltbetrachtung und Menschenkorrektur. Diesem dominierenden Element zum Trotz sind Lebert mannigfach bedrängend echte Milieuzeichnungen und, am Rande seiner dörflichen Unterwelt, die Gestalt eines Mannes, eines ehemaligen Matrosen, überzeugend gelungen. Man darf seinen weiteren Werken erwartungsvoll entgegensehen.

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