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DANTE BEI DEN DEUTSCHEN

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Der siebenhundertste Geburtstag von Dante Alighieri und der hundertste Geburtstag der Deutschen Dante-Gesellschaft, der ältesten Dante-Gesellschaft der Erde, geben uns Anlaß, Dante nicht nur zu feiern, sondern auch im deutschen Sprachraum die von ihm geschaffene geistige Welt uns neu zu vergegenwärtigen. — Am 14. September 1865, einen Tag nach der Gründung der Deutschen Dante-Gesellschaft, erklärte Karl Witte, Dante müsse einer der „Unsrigen“ werden ...

Zweifellos war nicht zuerst ein ästhetischer Gesichtspunkt Anlaß, Dante zu einem Deutschen zu machen. Im Vergleich zum Sonett ist die Terzine, die Strophengestalt der „Göttlichen Komödie“, im deutschen Sprachgeist nicht heimisch geworden. Auch die mathematisch durchdachte, symmetrisch gestufte Architektur der „Divina Commedia“, deren Struktur eher dem romanischen Bedürfnis nach clarte, nach durchschaubarer Klarheit, entspricht als dem deutschen Hang nach dem sfumato, dem geheimnisvoll Zwielichtigen, konnte nicht der Anreiz für die Zuversicht Wittes gewesen sein, daß Dante ganz ins deutsche Leben sich einfügen werde. Entdeckte Wahlverwandtschaft zwischen deutscher Geistesart und Dantes Genius lag viel mehr, so will mir scheinen, in einem anderen, nämlich in diesem: Erstens in einer Himmel und Erde umspannenden Geschichtsmetaphysik, das heißt in einem strengen, Himmel und Erde umgreifenden Geschichtsrealismus, der seine ersten Züge von Augustins Lehre vom Gottesstaat, sein entscheidendes Profil indes vom Glaubensdenken des Thomas von Aquino und Bonaventuras, nicht zuletzt auch von Averroes (Ibn Roschd) empfangen hatte; zweitens in der ruhelos ungestillten Sehnsucht des angefochtenen kämpferischen Menschen nach Vollendung und Verklärung, wobei freilich das Goethesche „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, etwas anderes ist als das Gnadenangebot der himmlischen Liebe Dantes an den sich seines Irrtums bewußt und in redlicher Buße seiner wahren Bestimmung inne gewordenen Menschen; und drittens die innig bluthafte Liebe zwischen Mann und Frau, welche sich in der Gestalt Beatrices verwandelt in die heilende und befreiende Macht der Liebe, die sich zu dem der Liebe_bedürftigen, oft genug schuldhaft in Liebe verstrickten Menschen neigt, um ihn zu sich selbst, um ihn zu seinem reinen Bild zu erheben.

Damit aus diesen Dimensionen Dante in deutsche Geistesund Lebensart sprechen könnte, mußten zwei Voraussetzungen erfüllt werden. Zunächst: es mußte eine sprachliche Brücke von Dante zu den Deutschen geschlagen werden.

Jedes Volk zeigt seine Besonderheit in seiner ihm eigentümlichen Sprache. Je geprägter eine Sprache ist, um so schwieriger ist es, sich mit dem anders sprechenden Nachbarvolk zu verstehen. Es ist, als sei ein Strom zwischen zwei verschieden sprechenden Völkern. Um von einem Volk zum anderen zu gelangen, muß; man über-setzen, wo es keine Brücke gibt. Dieses Übersetzen nennen wir im sprachlichen Bereich übersetzen. Alles''Reden und Hören ist ein Ubersetzen. Nun gibt es in jeder Sprache gewisse Wörter und Wendungen, die unübersetzbar sind. (Das Deutsche hat kein entsprechendes Deutewort für coquet, für elegant und esprit. Es gibt auch für die englischen Wörter common sense, f ashionable, gentleman und spieen kein entsprechendes deutsches Deutewort.)

Unübersetzbar im strengen Sinne sind die Herzwörter und die damit verbundenen Vorstellungen einer jeden Religion. Rudolf Otto hat in seiner Untersuchung „Die Gnadenreligionen Indiens und das Christentum“ (1930) wiederholt herausgestellt, wie die Herzwörter beider Religionswelten einander nicht entsprechen. In diesem Wissen sagte Carl Hilty in seiner Schrift „Lesen und Reden“ (1895): „Man muß die Bücher in ihrer Ursprache lesen. Es gibt keine ganz guten Übersetzungen, und je geistreicher und selbständiger ein Buch ist, desto weniger läßt es sich übersetzen.“ Dennoch und dessen ungeachtet ist für die Verständigung und für das Verstehen einer Volkssprache und eines Volksgeistes auf die Übersetzung nicht zu verzichten, da immer nur wenige in der Lage sind, das Nachbarvolk in seiner eigenen Sprache zu verstehen.

Und dann: Dantes Sprachkunstwerk muß gedeutet werden. Unerläßlich hierfür ist zuerst demütige Hörwilligkeit. Was hat Dante gesagt? Was hat Dante gemeint? Aus welchen Quellen hat Dante sich genährt? Also Auslegungskunst, Exegese (und nicht Eisegese, Hineinlegungskunst) — und dies im Zusammenhang mit gründlicher Erforschung der Zeit Dantes!

Unter den weit über zweihundert deutschen Übersetzungen der „Göttlichen Komödie“ und ihrer Teile entdecken wir in dem unentwegten Bemühen um Erschlüsselung der Dante-schen Visionen und Ideen drei Typen: die gewissenhaftwortgetreue, also philologisch genaue Übertragung, die meist auf Kosten der schönen Gestalt geht; dann die dem deutschen Schönheitsgefühl offene freiere Nachdichtung und schließlich die völlig freie Umdichtung, die es um der Form, um der Gestalt willen zuweilen an Sinngenauigkeit fehlen läßt.Dante unter den Deutschen? Wohl ist die „Göttliche Komödie“ sein großartigstes Werk. Wir werden auf dem Weg durch die drei Traumreiche vor immer neue Fragen gestellt. Allein das ist allgemeine Erkenntnis aller Deuter dieses Gedichtes: Der angefochtene und in Schuld gefallene Mensch hat in der Geschichte die Möglichkeit der Entscheidung. Je nachdem aber, wie er sich entschieden hat, wird über ihn entschieden. Die Entscheidung Gottes über ihn ist unwiderruflich. Es gibt für den Menschen ein rettungsloses Verlorensein (Inferno) und die Dimension der Läuterung, die in unermüdlicher Arbeit an sich selber ohne Gnade fruchtlos wäre (Purgatorio). Die Dimension der Verklärung des geläuterten Menschtums ist die Dimension der Erlösten, die Dimension der Geborgenheit in Gott (Paradies).

Allein Dantes Vita Nuova, seine erste Liebesdichtung, und dann seine philosophischen, staatspolitisch bedeutsamen und sprachwissenschaftlichen Werke, sein „Gastmahl“, seine „Monarchia“, seine „Volkssprache“, sein naturwissenschaftliches Buch über „Wasser und Erde“ und vor allem seine Kaiserbriefe sind für ein genaueres Verstehen Dantes zu kennen unerläßlich. Freilich: ein so komplexer Geist, ein so vielschichtiger Genius, der in seiner charakterlichen Einseitigkeit und Glaubenstreue doch nach allen Seiten Himmels und der Erde liebend sein Herz aufgetan hatte, der fluchte und segnete, der verdammte und begnadete, der sündigte und büßte und doch am Ende seiner Tage, dreimal von seiner Vaterstadt Florenz zum Feuertod verurteilt, so demütig offen für die versöhnende, für die heimbringende Liebe war, ein solcher Genius kann von einem Volk, dem er einmal erschienen ist, nie mehr vergessen werden. Ein solcher Genius bleibt einem Volk, dem er einmal erschienen ist, nicht nur ein „Tresor“, ein Schatzbehälter ganz anderer Art, als ihn sein Lehrer Brunetto Latini meinte, sondern immer zugleich auch eine bewegende, eine herausfordernde Frage, ein Angebot und Geschenk also — und damit ein Aufruf zur Läuterung, ein Gehilfe zur Freudel

Gewiß: Dante ist nicht für jedermann, auch wenn er in seiner aristokratischen Distanz, die er von den Menschen seiner Tage hielt, ein tief für die Vollendung der Menschlichkeit schlagendes Herz hatte! Wie sollte auch seine strenge Frömmigkeit, sein inniger Glaube an den Vater Jesu Christi — Io credo in un Iddio solo e eterno, che move tutto il mondo, non moto, con amore e con disio — wie sollte sein Abscheu vor aller Frömmelei, wie sollten' seine einsamen großen Gedanken jedermanns Sache sein? Der Kreis, der sich im deutschsprachigen Raum um Dante geschart hat und noch schart, ist verhältnismäßig klein im Verhältnis zu dem etwa der Goethe-Gesellschaft oder der Shakespeare-Gesellschaft, auch wenn er zu wachsen beginnt. Jedoch ist es ein Kreis weithin wesentlicher Menschen, von denen mancher selbst eine kleine strahlende Welt darstellt, denn Umgang mit Dante macht wesentlich, und nichts haben wir heute nötiger zu hören als die eindringliche Mahnung von Angelus Silesius: „Mensch, werde wesentlich!“ Kein Zweifel: der Umgang mit Dante macht wesentlich! Das aber bedeutet für uns: Jede Epoche hat ihr Wort der Stunde. Sie hat also ihre Fragen, sie hat ihre besonderen Probleme, sie hat ihre Deutungen und ihre Hoffnungen. Das gilt auch für uns Menschen im Zeitalter der technischen Revolution. Allein ihre Weltanschauung, ihre Hoffnungen und Deutungen der Probleme rufen den Menschen immer aufs neue an, alles zu prüfen, aber das Gute zu behalten.

So hat jede Epoche immer auch Fragen an Dante. Oft genug war die Versuchung groß gewesen, die Probleme der jeweiligen Epoche kurzerhand zur Sache Dantes zu machen und auf jede Frage eine Antwort aus Dante zu konstruieren. Indes zwei Gefahren konnten für den vertieften und bereichernden Umgang mit Dante immer wieder gebannt werden. Einmal: Es war nicht möglich, Dante in den konfessionellen Auseinandersetzungen zur Partei zu machen. Und dann: es war nicht möglich, ihn in den Strudel parteipolitischer Machtkämpfe zu reißen. Dante hat zwar zu seiner Zeit in kirchenpolitischen Kämpfen gestanden und hat darin seine Meinung gebildet über das Amt der Kirche und über ihre Beziehung zur weltlichen Macht. Und Dante hat zu seiner Zeit im Strudel parteipolitischer Machtkämpfe gestanden und hat darin eindeutig Partei ergriffen. Allein in allem Auf und Nieder seiner Auseinandersetzungen orientierte er sich — je länger, um so entschlossener — an sittlichen, nicht auswechselbaren und nur für den Augenblick geltenden Werten. Diese seine Gesinnung spiegelt sich in allen seinen Werken, insbesondere in seiner „Göttlichen Komödie“. Und so nötig um des Gesprächs mit Dante willen unsere Konfrontierung mit Dante bleibt, so gewiß ist mir, daß eine rechte Auslegung der „Göttlichen Komödie“ nicht entscheidend über die Grundauffassung Döllingers in seinem Vortrag über „Dante als Prophet“ und über die Grundauffassung Bernhard Rudolf Abekens in seiner Arbeit „Beiträge für das Studium der .Göttlichen Komödie' Dante Alighieris“ hinaus gelangen kann. Abeken vertritt wie Döllinger (stellvertretend für andere) die Forderung einer ethisch-religiösen Auslegung des Danteschen Hauptwerkes, der Grundintention der „Göttlichen Komödie“ entsprechend. Daß in das Licht dieser Grundaussage nun all die politischen, sozialen, die pädagogischen Fragen im Bund mit dem Problem Kirche und Staat zu allen Zeiten zu rücken sind, wird wichtig, wenn wir fragen, was Dante unter den Deutschen heute ist.

Ich habe die Erkenntnis gewonnen, daß von Dante für uns Menschen im Zeitalter der technischen Revolution wichtige Lebenshilfen ausgehen können. — Am Horizont erscheint das Profil des Menschen mit überfordertem Intellekt, des pausenlos in Anspruch genommenen und gehetzten.

Umgang mit Dante verdeutlicht die Notwendigkeit von der •heilen Korrespondenz zwischen Geist und Herz. Umgang mit

Dante befreit den Menschen von der Gefahr der Schablone. Umgang mit Dante öffnet dem intellektuellen Menschen unserer Tage die Bezirke des Musischen als jenen Bereich, der in Verbindung mit dem ordnenden und gestaltenden Geist ein Quell kulturschöpferischer Kräfte werden kann. Und das wäre schon etwas im Zeitalter der technischen Zivilisation! Vor allem aber hätten wir einiges zu lernen von Dantes strenger sach- und persongebundener Parteilichkeit, das heißt von seiner charaktervollen Entschiedenheit in der politischen Gestaltung der Gemeinschaft. Dante war nie Opportunist. Und wenn es in der Neuzeit wieder Mode geworden ist, oft das Hemd ohne Uberzeugung zu wechseln, nur um das bessere Brot zu haben, so hat solche Gesinnung mit dem echten Wandel in der politischen Uberzeugung Dantes, der allezeit für das stand und litt, von dem er überzeugt war, nichts zu tun. Er hat beispielhafte Charakterfestigkeit bezeigt. Und das Beispiel ist noch immer wichtig, zum Guten wie zum Bösen!

Und-Dante war ein glühender Patriot. Er hat seine oft gescholtene Vaterstadt Florenz, die sich so schmählich an ihm vergangen hatte, dennoch bis ans Ende seiner Tage geliebt. „Mein Volk, was habe ich dir getan?“ Ich kenne kein schmerzlicheres Bekenntnis zur eigenen Heimat. Dennoch war er zu stolz, als daß er unter entehrenden Bedingungen aus der Verbannung nach Florenz zurückgegangen wäre. — Dantes umfassende Friedenskonzeption in seiner „Monarchia“ sollte uns heute besonders im Zusammenhang mit Johannes' des XXIII. „Pacem in terris“ gründlich beschäftigen. Auch wenn diese Dantesche Konzeption sich auf Voraussetzungen gründet, die heute ganz einfach nicht mehr gegeben sind, ja die seinerzeit schon den Charakter des Utopischen trugen, so ist eines an ihr jedenfalls für uns Deutsche auch heute wichtig: die Überzeugung Dantes, daß die Völker der Erde auf einen Zustand hin sich entwickeln werden, in dem unter Respektierung der einzelnen Nationalkulturen und Nationalstaatlichkeiten eine Gemeinschaft allumfassender Duldung und Wohlfahrt heranwachsen wird, weil Kriege am Ende keine Probleme mehr lösen, sondern immer neue, schlimmere erzeugen werden.

Und schließlich: Dante ist allezeit bemüht gewesen, gegen den Mißbrauch kirchlicher und politischer Macht einer rechten, ihrem Wesen und Auftrag entsprechenden Amtsführung der Kirche und des Staates das Wort zu reden. Er war weder ein Vorkämpfer der Kirche gegen den Staat, noch war er ein Vorkämpfer des Staates gegen die Kirche. Aber er war dafür, daß beide Instanzen, ohne daß die eine der anderen glorifizierend ihre Existenz beglaubigen müßte, in echtem Gebrauch ihrer Aufträge und in gegenseitiger Respektierung dem Wohle der Völker zu dienen hätten, nachdem für Dante feststand, daß beide, Staat und Kirche, gottunmittelbar seien. Dabei wurde ihm das Bild des guten Hirten maß-geblich für das Bild des höchsten Priesters, ja aller, die ins Amt der Seelsorge gerufen sind. Ist es nicht bestürzend und beglük-kend zugleich, daß nach 700 Jahren ein Papst, ich meine wiederum Johannes XXIII., sich in seiner Amtsführung zur agapischen Diakonie bekannte und jedem Mißbrauch kirchlicher Macht, aber auch jedem Mißbrauch staatlicher Macht als Irrtum abgesagt hat?

Dantes universale Denkweise ist ganz eindeutig von seinem christlichen Glaubensbekenntnis bestimmt. Niemals würde man Dantes Werk und Dantes Persönlichkeit gerecht, wenn bei seiner Interpretation das Herzstück seines Denkens und Dichtens, sein bekennender und gestaltender Glaube an den in Christus geoffenbarten Gott eliminiert oder bagatellisiert würde. Echte und gültige Dante-Interpretation steht und fällt mit einem lebendigen Verstehen seiner christlichen Persönlichkeit und dem von ihm gestalteten christlichen Menschenbild. Es genügt also für das Verständnis und die Interpretation Dantes nicht ein nur philologisches Verhältnis zu ihm. Der Raum ist zu knapp, um diese Auffassung zu begründen. Aber unser Blick sei und bleibe orientierend gerichtet auf die Quintessenz seines Lebens und Dichtens: auf die Liebe, die er am Schluß seines großen Gedichtes als Gnade und Ziel seines Lebens und alles Lebendigen rühmt: VAmor che move il sole e l'altre stelle (die Liebe ist's, die Sonne und Sterne bewegt). Was aber hätten wir Menschen heute nötiger als jene Güte, als jene Liebe, die nicht das Ihre cucht?

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