6720343-1965_09_16.jpg
Digital In Arbeit

Darf ich bitten ...?

Werbung
Werbung
Werbung

„IM MODERNEN ROCK 'N' ROLL TRÄUMEN UND kreischen unsere jungen Leute, winden und drehen sich, als ob sie mit der ganzen Last der zivilisierten Zurückhaltung zu ringen hätten. Die Tänzer werden zu einer Masse ungegliederter Gestalten, stammelnd, schwitzend und geifernd vollführen sie in archaischem Singsang unsublimierte sexuelle Gesten. Das Weinen und Stammein um Zärtlichkeit und Liebe ist ein Ausdruck der im Innern tobenden Gefühle des Beraubtseins.“ In ratloser, dennoch das Phänomen scharf sezierender Distanz standen die Wissenschaftler, wie etwa Joost A. M. Meerloo, aus dessen 1959 erschienenem Buch „Rhythmus und Ekstase“ obenstehendes Zitat entnommen ist, dem durch den „neuen“ Rhythmus provozierten, krampfhaften Begeisterungstaumel der Nachkriegsjugend gegenüber. Jazzfachleute erkannten im Rock wehmütig den Blues wieder, der zum Schlager geworden war: „Alles, was im Jazz leicht und gelöst, geistvoll und ausdrucksstark ist, wird im Rock aufdringlich und laut, vulgär und banal. Der“,swing' beispielsweise, der dem Jazz seine intensive Spannung gibt, wird im Rock zu einem primitiven Stampfen ... Und die Phrasen und Elemente, die der Rock aus dem Jazz übernimmt, werden zunächst einmal sinnentleert, damit sie als Klischees der Unterhaltungsindustrie um so wirksamer sein können“ (J. E. Berendt). Die Methode der durch „Sinnentleerung“ ermöglichten Kommerzialisierung gehört aber auch heute noch, wo in den Tanzlokalen die Rock-'n'-Roll-Ekstase neuen Tänzen, die durch ihren Gesellschaftsspielcharakter eher gemütlich wirken, gewichen ist, zu den Geheimrezepten der Modetanzerfinder. Die Choreographie der meisten Gesellschaftstänze ist aus Volkstänzen entnommen. Daß man aber Eingeborenentänze auf europäischen Tanzparketts anzusiedeln versucht, dagegen wäre in mehrfacher Hinsicht etwas einzuwenden.

AUF DEN TWIST ETWA WURDE ÖSTERREICHS tanzwütige Jugend durch den Hula-Hoop-Reifen, der 1958 zum Preis von 25 Schilling in allen Spielwarengeschäften zu kaufen war, gebührend vorbereitet. Österreichs Jugend hatte jedenfalls an den gymnastischen Übungen zu Musikbegleitung Gefallen gefunden. Da Twist auch sehr elegant getanzt werden kann — und das ist, neben seiner leichten Erlernbarkeit, wohl mit ein Grund, daß er auch heute noch in den Modetanzavantgardekellern getanzt wird —, freundeten sich auch professionelle Ästheten schließlich mit ihm an. Doch bald darauf drang die Kunde von noch abenteuerlicheren Tanzunterhaltungen aus St. Tropez. Die Schallplattenindustrie und von ihr finanzierte Disc Jockeis kreierten in rascher Folge: Madison, Bossa Nova, Slop, Limbo, Parachute Jump, Bomba, Tamure, Locomotion, Ma-shed Potatoes, Ohunga. Um die Schnellebigkeit der Modetänze unter Beweis zu stellen, haben Madison, von dem es in den Wiener Tanzschulen vier (!) verschiedene Choreographien gab, Bossa Nova und Tamure bereits stark an Beliebtheit verloren. Zur Zeit aktuell sind — im auch in den Modetänzen hintenhinkenden Österreich — Slop, Hully-Gully und Manhattan.

EINER DERARTIGEN MODETANZINVASION SEHEN sich weder die österreichischen Tanzinstitute noch deren jugendliche Schüler gewachsen. Auf dem Kongreß der österreichischen Tanzschullehrer im Sommer 1962 entschlossen sich die Leiter der Tanzinstitute — zum Teil sehr widerstrebend — Twist und Madison in ihr Lehrprogramm aufzunehmen. Und um dem „kommerziellen Pfusch“ der Modetanzerfinder einen Riegel vorzuschieben, erstellte der Internationale Kongreß der Tanzschullehrer ein Internationales Welttanzprogramm, in dem die Standardtänze festgelegt wurden.

„Man will ja nicht als altmodisch gelten!“ rechtfertigt sich Oberstleutnant Willy Elmayer, der Leiter der traditionsgemäß renommiertesten und konservativsten Tanzschule Wiens. Der unnachgiebige Hüter der Schicklichkeit typisch österreichischer Prägung hält mit seiner Uberzeugung nicht hinter den Berg. Er bezeichnet Twist, Slop und Hully-Gully, die bei ihm unterrichtet werden, kurzweg als „Idiotentänze“: „Alles, was offen getanzt wird, ist eine Zeiterscheinung. Dafür braucht man doch nicht tanzen zu lernen! Natürlich ist es viel schwerer, einen Walzer zu tanzen als einen dieser Modetänze!“ Und damit sind wir bei jenem Thema angelangt, in das bei Willy Elmayer, dem glühenden Verfechter der Wiener-Walzer-Seligkeit, alle Gespräche münden. „Der Österreicher ist ein Ästhet von Geburt auf. Zu ihm passen einfach die offenen Figuren nicht. Aber ich lehre ja das letzte vom letzten, nur um der Jugend eine Freude zu machen!“

. Im Twist sieht Oberstleutnant Willy Elmayer eine wunderbare gymnastische Entspannung. „Aber da geh' ich doch lieber gleich in die Turnschule!“ Im allgemeinen stellt der nun achtzigjährige Tanzlehrer in den Modetänzen eine Tendenz fest, die die Tanzpartner auseinanderführt: „Sobald die Synchroni-tät der beiden Partner verlorengeht, verliert das Tanzen seinen Sinn. Man verliert beim Offentanzen auch die Möglichkeit der Konversation. Damit können die Modetänze jedenfalls nicht unter die Gesellschaftstänze eingereiht werden!“

Dazu sei erklärend festgestellt, daß der Sinn des Tanzes — es gibt ja auch Einzeltänze — keineswegs in der Synchronität zweier Tanzpartner besteht, sondern allgemein in einer inbildhaften Ekstase, die auf den Tanzenden befreiend wirkt. Oberstleutnant Elmayer bezieht seine Bemerkung auf den Gesellschaftstanz, eine Form des Tanzes, die der Liebeswerbung dient. Diese Funktion erfüllen auch die Modetänze, nur daß die Werbung hier durch die forcierte Betonung der Körperlichkeit, also etwa Hüftenwackeln, viel direkter erfolgt. Der Slop etwa, bei dem der Akzent im Rhythmus auf einer ruckartigen Halbdrehung des einen Fußes auf der Ferse, während sich das Gewicht auf den anderen verlagert, besteht, ist durchaus nicht unerotisch. Die Modetänze sind im verstärkten Maße Schautänze, ohne aber das ästhetische Format der früheren, wie etwa Menuett oder Quadrille, zu erreichen. Sie sind zum Teil reine Zurschaustellung, sie kommen einem ziemlich hinter-grundslosen Geltungsbedürfnis entgegen. Das erklärt ihre Beliebtheit und ihre begeisterte Aufnahme in jenen Kreisen Jugendlicher, die den anderen etwas voraushaben wollen. Interessante psychologische Studien sind in dieser Richtung vor allem in den Tanzlokalen in der Wiener Innenstadt anzustellen.

DASS OBERSTLEUTNANT ELMAYER DAS „LETZTE VOM letzten“ lehrt, ist auch auf das Drängen seiner jüngeren Tanzlehrer, die wieder von den Schülern vertrauensvoll diesbezüglich bestürmt werden, zurückzuführen. Tanzlehrerin Löwe, bei der ich eine Modetanzstunde konsumierte, ist eine begeisterte Verfechterin der Modetänze. Kein Wunder, sie erlernt sie durch „einmal Hinschauen“! Ich bin in dieser Einzelstunde unter charmanter Führung zumindest in das Wesen des langsamen Bossa Nova und in das des Hully-Gully vollkommen eingedrungen. Der Hully-Gully setzt sich aus Schritten mehrerer Modetänze zusammen. Er wird in einer Reihe getanzt und enthält Elemente des Bossa Nova, des Madison und des Slop. In der Folge beschreibt die Tänzerkette ein Viereck. Ein nettes Bewegungsspiel; von Ekstase (ich erinnere an die Definition von Curt Sachs in seinem Werk „Eine Weltgeschichte des Tanzes“: „Jeder Tanz ist und gibt Ekstase.“) oder Rauschzustand, den man beim Schweben im Walzerrhythmus empfindet, kann nicht die Rede sein. Konnte sich schon der Madison nicht lange der Beliebtheit der Tanzmusikfans erfreuen, obwohl es gerade bei diesem Tanz eine Vielfalt von Figuren gibt, die man mit eigener Phantasie beliebig erweitern kann, kann man dem Hully-Gully noch weniger Zukunftschancen einräumen. Der Slop hingegen scheint mir zukunftsträchtiger, weil er sich in so manchen Modetanz als ab-wechslungsbringende Variante einbauen läßt.

FÜR MEINE ZWEITE TANZSTUNDE suchte ich mir eine Tanzschule im XVI. Bezirk aus, die Sonntag nachmittag einen Modetanzkurs veranstaltet. Bei Charly Rausch in der Neulerchenfelder Straße mußte ich allerdings mit einem jungen Mann als „Partnerin“ vorliebnehmen. „Damenknappheit ist ein Charakteristikum für die Tanzschulen der Vororte“, entschuldigte sich der elegante sechzigjährige Tanzschulleiter, der sich diesen Umstand mit der Spekulation besorgter Mütter erklärt, daß eine Tanzschule ein Heiratsinstitut sei. „Bei Elmayer oder Franzi vermutet man eben eher heiratsfähige junge Herren aus gutem, das heißt reichem Hause!“ schmunzelt Herr Rausch, dessen Verdienst es ist, den nach dem Krieg bei den Kollegen noch als Modetorheit verpönten Boogie gewissermaßen salonfähig gemacht zu haben. „Da der Boogie wie fast alle Modetänze Viervierteltakt hat, ist er ein Tanz mit variablen Verwendungsmöglichkeiten. Man kann ihn nach Belieben mit Twistoder mit Slopschritten mischen!“ Der Boogie stellt in der Tanzschule Rausch auch die Ausgangsbasis für den Unterricht der zur Zeit gerade noch öder noch immer aktuellen Modetänze dar. Entscheidend für die Auswahl der in den Unterricht aufgenommenen Modetänze ist ihre vermutliche Lebensdauer. Bei ßer Jugend in Neulerchenfeld jedenfalls scheinen die neuen Tänze sehr beliebt zu sein. „Wir müssen pro Kurs mindestens 60 Herrn wegschicken, weil wir zuwenig weibliche Schülerinnen haben!“ bedauert Herr Rausch. (Eine Hietzinger Tanzschule räumt ihren Sorgen in dieser Hinsicht sogar auf ihren Plakaten Platz ein mittels grünem, überklebtem Querstreifen: 50 junge Damen für neuen Kurs gesucht!) Die Beliebtheit der Modetänze erklärt sich Herr Rausch durch die Berieselung des Rundfunks mit Schlagermusik. „Wann hört man aus dem Radio schon einen Walzer?“ fragt er und schlägt damit in dieselbe Kerbe wie Oberstleutnant Elmayer („In Wien sagt man doch heute:“,Herr Kapellmeister, spielen S' einen Walzer, damit der Saal leer wird!'“)

DASS DIE TANZLEHRER MIT DEN anscheinend am Fließband hergestellten neuen Tänzen nicht glücklich sind, erklärt Charly Rausch damit: „Modetänze, wie sie jetzt gang und gäbe sind, braucht man nicht zu erlernen. Den einfachen Grundschritt kann man sich auch in einem Tanzlokal abschauen. Die Tanzschulen verdienen daran also nicht sehr viel. Außerdem kann man die neuen Sachen nicht mehr als Tänze, sondern höchstens als Tanzspiele bezeichnen!“ Daß der Rock-'n'-Roll-Rhythrnus der heutigen Jugend gewissermaßen im Blut liegt, ist ganz gewiß eine enthusiastische Übertreibung für solche Meldungen bezahlter Disc Jockys. Tatsache ist, daß sich in der Tanzschule Rausch an die sechzig junger Menschen (einschließlich der männlichen Paare) mit den vom Meister selbst entworfenen Boogiegrund-schritten mit einer Verbissenheit abmühten, als gälte es den Wiener Walzer für ein Turnier einzustudieren! „Jeder Tanz ist schön“, meint dazu Tanzschulbesitzer Rausch, „es kommt nur auf den Ausführenden an!“

Mehr die soziale Seite der Modetanzbewegung sieht die Leiterin einer Tanzschule in der Neubaugasse: „Wir wollen doch alle leben! Die Modetänze helfen mit, soundso-vielen Menschen — vom Komponisten angefangen bis zum kleinsten Arbeiter in der Schallplattenfabrik — Arbeit zu geben!“ Auch dieses Institut, das stolz auf eine siebzigjährige Vergangenheit zurückschaut, hegt den Wiener Walzer als sein liebstes Kind (Frau Kopetzky: „Der Walzer ist der König der Tänze!“). „Aber eine Tanzschule ist ein Luxusbetrieb. Und aller Luxus ist der Mode unterworfen. Wir müssen daher trachten, immer wieder das Neueste zu bringen. Natürlich nicht in der allerkrassesten Form!“

Den gesellschaftlichen Aspekt wirft die temperamentvolle Leiterin einer Tanzschule, Anny Mader, welche einen eigenen Modetanzkurs veranstaltet, in die Diskussion: „Modetänze muß man können! Man wird zum gesellschaftlichen Außenseiter, wenn man nicht auch die neuesten Tänze beherrscht. Tanz soll vorwiegend unterhalten, und Unterhaltsamkeit kann man den Modetänzen nun doch nicht absprechen!“

Da sind die Besucher eines Tanzklubs beim Wiener Stadtpark, vorwiegend Studenten, allerdings anderer Meinung: „Mit der Zeit wird alles fad, was man nicht selbst variieren kann. Wenn man einmal die Spielregel dieser Tänze kennt, dann kriegt man bald genug davon!“ bekam ich von einem vierund-zwanzigjährigen Jusstudenten zu hören. „Die in Reihen getanzten Modetänze haben zumindest den Vorteil, daß es keine Mauerblümchen gibt. Aber ich muß gestehen, daß ich, außer einer Clique, die anscheinend täglich hier trainiert, noch keine Gruppe gesehen habe, die sich einheitlich an die Anweisungen des“,Ansagers' hielt!“ erzählte mir seine Begleiterin. „Ich tanze am liebsten Walzer!“ schwärmte eine Blondine, der man dies gar nicht anmerkte. Und: „Ich mach nicht mehr mit. Den Slop hab' ich mit Müh und Not erlernt, jetzt tanzen die schon wieder Manhattan.“

Da wird sich Herr Elmayer aber freun...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung