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Das Abendgrün

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Es war damals, als noch die Vorortelinie fuhr und hinter dem mit Pferden bespannten Spritzwagen der Mann ging, welcher an einem langen Strick die Spritzrose sdiwang. Da gab es auch noch meh? freie Plätze als heute, näher kleine Wiesenflecke und ein Stück weiter hinaus große Wiesen, Buschstrecken, grünwuchernde Romantik.

Und wir waren Kinder, glücklichere Kinder als jene von heute, wir waren keine Gefangenen der Häuserschluchten; Wald, Wiese und Weinberg waren uns so nahe als den heutigen Kindern höchstens irgendein kleiner, verstaubter Park in dem kein Kind tun darf, was es möchte.

Ansonsten waren wir aber doch auch nicht viel anders, überall flott daran, um eine vergnügte Dummheit nie verlegen, zwischen Spiel und Spiel mitunter von großen Taten und schönen Dingen träumend.

Oft — das kann ich heute sagen — waren wir aber auch ganz seltsam ernst, so aus innerer, stiller Heiterkeit heraus ernst und besinnlich, wie man es als Erwachsener nur in seltenen, ganz glücklichen und friedvollen Stunden zu sein vermag.

Ja, damals — — —

Dann und wann fuhr ein Zug hoch oben auf dem Bahndamm. Und wir saßen drunten vor dem braunen Holzzaun und wußten ausnahmsweise einmal nicht, was wir tun sollten.

Unser drei Buben waren wir, der Hansel, der Willi und ich. Und wir langweilten uns. Die Schulaufgaben hatten wir bereits gemacht, das Necken der Mädchen freute uns nicht mehr, um mit den Buben aus einer anderen Gasse Streit zu suchen und zu raufen, dazu waren wir augenblicklich zu faul, also wußten wir wirklich nicht, was wir tun sollten.

Die Zeit verging so langsam. Das Gras auf dem Bahndamm stand hoch und hin und wieder strich ein Windstoß darüber hin, daß es wogte als wäre es eine sattgrüne Flut.

Da sagte Hansl, der von uns dreien überhaupt der Nachdenklichste war, zu uns: „Schaut einmal, was das Gras für Wellen macht! Wißt ihr was? Legen wir uns auf den ‘ Bahndamm ins Gras und denken wir uns dabei, daß wir auf dem Meere sind!”

Hm, denken, daß wir auf dem Meere sind … Aber ja, warum denn nicht. Es war zwar verboten, sich auf den Bahndamm zu legen, aber von diesem Verbot wußten wir nur, wenn wir nicht auf den Bahndamm hinauf wollten.

Flink, mit einer durch Gewohnheit erworbenen Übung, überkletterten wir den etwa mannshohen Zaun. Krochen dann auf allen Vieren den dort fast zwei Stockwerke hohen Damm hinauf und legten uns knapp unter der Geleisestraße langhin auf den Rücken.

Ah, das war schön! Das Gras streichelte uns linde wie wirkliche Wellen.

„Jetzt sind wir auf dem Meer!” sagte Hansl mit einer sonderbar eintönigen, aber um so klareren Stimme. „Und ihr müßt euch denken, daß wir todmüd auf dem Wasser schwimmen, weil unser Schiff . zugrunde gegangen ist. Das Land ist noch so weit. Wer weiß, ob wir es je erreichen?!”

Wir blickten gerade vor uns hin. Aber da wir auf dem Rücken lagen, schauten wir nicht auf die Erde herab, sondern in den Himmel hinein. Und eine große Wolke war die Insel, nach der wir schwammen. Wir kamen ihr immer näher.

Hansl redete wieder: „Wir sind arme Schiffbrüchige. Auf dieser Insel dort werden wir uns ein Haus bauen und ganz allein sein. Wir werden so leben, wie einstens Robinson, und die Insel wird uns ganz allein gehören …

Eine Weile lagen wir ruhig, jeder träumte sich Robinson. Bis unsere Wolkeninsel, der wir eine Zeitlang scheinbar näher gekommen waren, langsam zerfloß Es blieb nichts von ihr, als ein goldener Hauch, der sich allmählich in die Tiefe des Himmels verlor.

„Unsere Insel ist fort!” klagte Willi.

„Ach, weißt”, erklärte ihm Hansl, „es war eh nur eine Fata Morgana. Das ist etwas Schönes, das man sich aber bloß einbildet!”

Wir suchten nach einer neuen Insel, fanden aber keine mehr.

Nicht die kleinste Wolke hob sich über den Rand der Waldberge empor. Aber die Sonne sank, von seidig, braunem Höhenrauch leicht verschleiert, zu ihm nieder, berührte ihn.

In einer fast andächtigen Stille sahen wir der Sonne untergehen zu. Bis von ihr nichts mehr zu sehen war als eine Goldglanzgloriole, unter der jetzt die Waldberge in einem harten Dunkelblau lagen.

Der Himmel veränderte sieh mählich. Sein heiteres, leuchtendes Blau verblaßte und — wurde — — ja, wie?

Vielleicht grün? Nun ja, man konnte grün dazu sagen, es war — noch am wenigsten falsch. Denn, wenn dieser Himmel auch als grün empfunden werden konnte, so nur deswegen, weil es keinen Namen für diese seltsame, eigenartige — einzigartige Farbe gab. Auf der Erde selbst gab es ein solches Grün jedenfalls nicht.

„Schaut euch jetzt den Himmel an!” forderte Hansl.

Aber ja, der Willi und ich schauten uns doch schon eine ganze Weile den Himmel an.

„Nein, das ist nicht unser Himmel!” sagte Hansl. „Das ist ein ganz anderer Himmel. Jetzt sind wir nicht mehr auf unserer Welt. Wir sind auf einer anderen Welt. Auf einer Welt, wo es viel schöner ist. Da gibt es keinen Krieg und immer kriegt man genug zu essen. Der Vater streitet nicht mit der Mutter, weil kein Geld im Haus ist, und die Mutter braucht nicht im Bett heimlich weinen, weil der Vater vor lauter Sorgen zu ihr grauslich gewesen ist. Wir sind auf einer anderen Welt! Horcht einmal, da singt ein Vogel, so einen gibt es auf der Erde auch nicht!”

„Nein, so einen Vogel gibt es auf der Erde nicht!” bestätigte Willi, und ich nickte ebenfalls zustimmend.

Das war ein Lied! Hin und wieder einmal träumt man von so einem schönen Gesang

Wir lagen auf dem Bahndamm, schauten in das — Abendgrün hinein und lauschten — — einem Amsellied. Und wir glaubten, auf einer anderen Welt zu sein, auf der es nichts Dunkles und Häßliches gab.

Da aber die Sonne hinter den blauschwarzen Bergen immer tiefer sank, stieg das Abendgrün höher und höher empor, bis es fast die Himmelsmitte erreichte. Der anschwellende Wind flüsterte dunkel im Grase des Bahndammes. Uns aber wurde dieses Flüstern zu den heimlichen Stimmen jener anderen Welt, auf die wir uns hinübergeträumt hatten, zu zarten und zärtlichen Stimmen, die wir dem Laut nach nicht verstanden, die aber unseren verstehenden Herzen etwas erzählten, was unbeschreiblich schön, gut und froh war.

Das ganze Weltall bestand nur aus der Stille voll Abendgrün und dem Pochen unserer Herzen. Unser Atem gehörte der Stille zu. Das Leben war ein leises Wunder aus uns selber. Die Zeit war lächelnder Gast bei der Ewigkeit.

Der von den Bergen hereinstreichende Wind wölkte uns die Düfte der Ferne zu. Und Gott schaute uns an aus einem allerersten Stern.

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