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Das Abenteuer von Anconc

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Wir müssen diesen Bericht, obgleich er das Menschliche und nichts sonst in den Vordergrund stellen soll, mit ein paar Worten aus der Seekriegsgeschichte beginnen.

Die österreichische Flotte hatte während des ersten Weltkrieges Jahr um Jahr eine erdrückende Uebermacht erfolgreich abgewehrt. Ende 1917 aber erschien unerwartet ein neuer, höchst gefährlicher Gegner. In Italien waren winzige Motortorpedoboote gebaut worden, die eine außerordentliche Schnelligkeit entwickelten. Sie waren so klein und flink, daß sie mit ihren Torpedos Unheil anrichten und längst wieder verschwinden konnten, ehe man sie überhaupt bemerkt hatte.

Um einige dieser unangreifbaren Quälgeister unschädlich zu machen und endlich einmal ihre Bauart kennen zu lernen, wurde bei der österreichischen Flotte ein Handstreich gegen den italienischen Hafen Ancona erwogen, in dem die Boote lagen.

Linienschiffsleutnant Josef Veith, fünf Seekadetten und 35 Mann meldeten sich freiwillig zu dem tollkühnen Unternehmen.

Sie wollten in Ancona eindringen und die Motortorpedoboote — entführen!

Ihre Vorgesetzten waren der Ansicht, daß es notwendig sei, auch Leute italienischer Volkszugehörigkeit und Muttersprache mitzunehmen; das würde die Aussichten auf den Erfolg erhöhen. Veith widersprach; er erklärte, es werde genügen, wenn sich unter den Matrosen deutscher Muttersprache einige befänden, die italienisch verstünden. Aber er mußte sich dem Befehl fügen. So nahmen an dem Unternehmen auch zwei Italiener, die der österreichischen Kriegsmarine angehörten, teil, der Marsgast Casari und der Matrose Paviani.

In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1918 landet die Abteilung mit einer Motorbarkasse heimlich bei Falconera, westlich von Ancona. Die Oesterreicher betreten unbemerkt den Boden des feindlichen Landes.

Es ist eine stille laue Frühlingsnacht. Nur im Bahnhof von Falconera fauchen und pfeifen die Züge, die hier verschoben werden. Die österreichische Abteilung muß die Straße nehmen, die mitten durch die Stadt führt.

Italienische Soldaten lagern im Freien. Nun heißt es, alles auf eine Karte setzen. Man muß versuchen, den Gegner zu verblüffen.

Seekadett Schimko, der italienisch spricht, tritt grüßend auf eine Gruppe italienischer Offiziere zu mit den Worten: „Wollen Sie mir bitte sagen, Herr Kamerad, wo hier der nächste Weg nach Ancona führt?“

Es ist ein Augenblick höchster Spannung. Was wird jetzt geschehen?

Schimko hört, wie ein Italiener halblaut sagt: „Es sind Engländer/ Keiner kommt auf den Gedanken, daß man Gegner vor sich hat! Das wäre doch wohl allzu phantastisch gewesen. Also geben die italienischen Offiziere bereitwillig Auskunft.

Schimko dankt und die Österreichische Abteilung marschiert zwischen den lagernden italienischen Truppen hindurch. „Ecco Inglesi! — Schau, Engländer“ hört man aus den dunklen Massen der Ruhenden. .

Der Morgen dämmert. Da sind Häuser und ländliche Gassen, es ist Palombina, ein Dorf vor Ancona.

4.30 Uhr. Noch 20 Kilometer bis zum Hafen von Ancona. Unmöglich also, ihn vor Tagesanbruch zu erreichen. Die Motorbarkasse war zur weit ab von Ancona an die Küste gekommen. Aergerlich! Bei hellichtem Tag können nicht 60 Oesterreicher in den italienischen Kriegshafen einmarschieren. Man wird bis zum nächsten Abend warten müssen. Also heißt es jetzt, ein Quartier finden, um tagsüber verborgen zu bleiben.

Am Abhang des Berges Palombini steht ein“ einsames Haus. „Hier wollen wir den Tag verbringen.“ Man dringt mit vorgehaltener Waffe ein, die Bewohner fahren entsetzt aus dem Schlaf auf, ein Ehepaar mit seinen kleinen Kindern.

„Keine Angst! Es geschieht euch nichts. Ihr müßt in den Keller hinunter und müßt euch still verhalten. Fügt euch unseren Anordnungen, dann habt ihr nichts zu befürchten.“

Seekadett Schimko wird als Kundschafter nach Ancona vorausgeschickt. Er trennt die militärischen Abzeichen von seiner Bordjacke und Kappe ab und nun sieht er wie ein fried licher Zivilist aus. Man kann ihn für den Maschinisten eines die Küste entlangbummelnden Frachtdampfers halten.

Es ist Tag geworden. Und da wird es um das Haus, in dem sich die Oesterreicher verborgen halten, lebendig. Kinder kommen dahergetrippelt, die Kinder des Ehepaares zu besuchen. Was soll man mit diesen kleinen Gästen anfangen? Läßt man sie laufen, so plaudern sie aus, was für Dinge in dem Hause vorgehen. Nein, die Kinder dürfen nicht mehr fort. Sie können im Keller mit den Sprößlingen des Ehepaares spielen, soviel sie wollen. Aber sie müssen dableiben.

Du gütiger Himmel, wieder kommt Besuch und wieder! Die Kleinen der Bäuerin sind anscheinend sehr beliebt in Palombina. Das Haus, in dem die 60 Soldaten mit Ungeduld auf den Abend der Entscheidung warten, verwandelt sich im Laufe des Tages in einen wahren Kindergarten!

Beinahe mutet das wie ein erschreckendes Märchen an, daß all die ahnungslosen Kleinen, die die Schwelle betreten, von dem Hause verschluckt werden, als wäre es ein Ungeheuer, das die Kinder frißt. Aber die Oester-reicher, soweit sie nicht bei den Fenstern Posten stehen, spielen mit den Kleinen und machen sie das Unheimliche dieses Abenteuers vergessen.

Hoffentlich kommen jetzt nicht auch noch die Eltern der verschiedentlichen Kinderchen, um nachzusehen, wo ihre Sprößlinge eigentlich so lange bleiben!

Schimko kehrt zurück.

Man begrüßt ihn stürmisch, man freut sich, daß es ihm gelungen ist, unangefochten nach Ancona zu kommen. Aber die Freude währt kurz. Er bringt schlechte Nachrichten. Man hat angenommen, die Moto'rtorpedoboote lägen an der Mole. Doch dort ist nur ein einziges vertäut. Die übrigen, vier an der Zahl, liegen weit draußen im Hafen.

Ein neuer Plan muß rasch gefaßt werden. Veith beschließt, das an der Mole vertäute Motortorpedoboot zu kapern und auf diesem dann seine Leute zu den anderen vier Booten zu bringen. Mit den erbeuteten fünf Booten wird man rasch, rasch aus den Hafen fahren, der eigenen Küste zu. Ein Teil der Abteilung soll versuchen, italienische Unterseebote zu sprengen.

Das aber ist nicht möglich. Schimko hat bei seinem Kundschafterbesuch in Ancona festgestellt, daß sich an der Stadtgrenze ein Zollamt befindet, das die „Verzehrungssteuer“ einhebt. Wer mit einem Paket angetroffen wird, Soldat oder Zivilist, muß den Zollbeamten zeigen, was er mit sich führt. Sind

Lebensmittel in dem Paket, so werden sie versteuert. Und wenn sich nun herausstellt, daß die „Inglesi“ nicht Hammelkeulen und Hühner mit sich führen, sondern Sprengmunition, so kommt es ohne Zweifel zu Wechselreden und Untersuchungen, bei denen sich herausstellt, wer die Gäste in Wirklichkeit sind. Nein, man muß sich schweren Herzens von der Sprengmunition trennen. Sie wird vergraben.

Um 11 Uhr abends verläßt die Abteilung das einsame Haus, dessen Gastfreundschaft sie sich hat erzwingen müssen. Niemand darf das Haus verlassen, wird dem „Kindergarten“ verkündet; die ganze Gegend sei schon von Oesterreichern besetzt, ihre Wachposten hätten strengen Befehl zu schießen, sobald jemand wagen würde, über die Schwelle zu treten.

Die Abteilung marschiert nach Ancona. Mit militärischem Gruß begegnet man einer italienischen Abteilung. „Ecco Inglesi“, hört man wieder murmeln.

Und nun ist die Stadtgrenze erreicht. Da steht das Zollamt der Verzehrungssteuer. Keine Pakete, keine Hühner und keine Hammelkeulen. Passiert!

So marschieren die Oesterreicher in den feindlichen Kriegshafen ein.

Stille Gassen mit schlafenden Häusern und trübe brennenden Laternen. Der Matrose Paviani bleibt zurück. Veith sieht, wie er sich umblickt, daß Paviani auf zwei Zivilisten einredet und mit ihnen in einer Seitengasse verschwindet. Sogleich meldet sich der zweite Italiener der Abteilung, der Marsgast Casari, mit dem Anerbieten, Paviani zurückzuholen. Casari ist wohl der Geeignetste dazu, das Italienische ist ja seine Muttersprache. Ehe man ihm ja oder nein gesagt hatte, ist er .schon umgekehrt und in derselben Gasse verschwunden wie Paviani. •♦

Einige Augenblicke später knallen irgendwo zwei Schüsse durch die Nachtstille.

Hat Casari auf den Matrosen Paviani geschossen? Oder sind es Alarmschüsse?

Gleichviel, eines steht fest: Man ist verraten worden.

Nun erst ergibt siel: aus den Gesprächen der Leute, daß sich Paviani während des Tages auf längere Zeit aus dem „Kindergarten“ entfernt hat. Er ist Gott weiß wie lange nicht zu sehen gewesen.

Die Stimmung der marschierenden Abteilung ist jetzt gedrückt. Kann man noch an einen Erfolg glauben, wenn man weiß, daß der Verrat bereits am Werke ist?

Um den Leuten wieder Zuversicht zu geben, tritt Seekadett von Mandolfo auf zwei italienische Offiziere zu, die ihnen begegnen, und fragt sie recht laut nach dem Weg zur Porta Pia. Sie antworten, ohne den geringsten Argwohn zu zeigen.

Veith und die Seinen kommen unangefochten zum Hafen und an die Mole, bei der das eine Motortorpedoboot liegt.

Nun aber vernimmt man Alarmschüsse.

Die Entscheidung drängt sich in Augenblicken zusammen. Von der Festung her knattern die Gewehre, ein heftiges Feuer setzt ein. Die Lichtarme der Scheinwerfer tasten hastig durch den dunklen Hafen.

Von den in der Nähe liegenden Schiffen wird herübergerufen: „Was ist los? Brauchen Sie Hilfe?“

„Nichts, nichts“, antwortet Seekadett Mandolfo geistesgegenwärtig. „Es war falscher Alarm.“ Tatsächlich verstummt nun auch das Feuer.

Noch kann das Unternehmen glücken.

Rasch besetzen die Oesterreicher das an der Mole liegende Motortorpedoboot.

Aber sie müssen zu ihrem Entsetzen feststellen, daß der Motor zerlegt, das Boot nicht fahrbereit ist!

Ehe man einen neuen Plan fassen kann, um sich der anderen Boote zu bemächtigen, wirkt sich der Verrat des Paviani und des Casari aus. Der Kai hat sich mit Soldaten und Karabiniere belebt. Veith läßt noch die Bestandteile des Motors ins Wasser werfen. Dann ist das kühne Abenteuer zu Ende.

Ein Kampf wäre jetzt sinnlose Aufopferung der tapferen Freiwilligenschar. Die Oester-jseicher werden umringt. Sie werfen die Waffen weg. Es ist wie ein Nachtspuk, dieses Gewühl aufgescheuchter, in höchster Erregung durcheinanderflutenden Mengen von Soldaten und Zivilisten. Sporenklirrend stürzt ein General auf die Gefangenen zu und gibt außer sich vor Aufregung den Befehl, einen Seekadetten und zehn Mann sofort zu erschießen.

Veith und seine Leute gehen zwischen blinkenden Bajonetten landein. Sie sind alle bereit gewesen, im Kampf zu fallen, nicht aber wie Verbrecher hingerichtet zu werden.

Doch es scheint, daß die Verwirrung, die ganz Ancona ergriffen hat, die Ausführung des übereilten Befehls zur Hinrichtung verzögert. In höchster Alarmbereitschaft sehen Stadt und Hafen einem Angriff entgegen. Niemand kümmert sich mehr um die Gefangenen. Sie warten in der Kaserne, in die man sie geführt hat, auf den Augenblick, da man die elf zum Tode Bestimmten auswählen würde.

Sie warten gottlob vergebens.

Am nächsten Tag erhalten sie den Besuch der höchsten Offiziere der Festung. Man bestaunt die Gefangenen, man beginnt sie zu bewundern, man lädt Veith und die Seekadetten zum Speisen ein.

Der kommandierende italienische General — nicht der Aufgeregte von gestern nacht — begrüßt die österreichische Abteilung mit den schönen ritterlichen Worten:

„Eine stolze Mannschaft, bezwungen, doch nicht gebeugt...“

Veith und seine Freiwilligen kehrten nach dem Ende des Krieges in ihre Heimat zurück.

Wohl war ihrem tapferen Beginnen der Erfolg versagt geblieben, da sich ihnen allzuviel unerwartete Hindernisse in den Weg gestellt hatten. Aber wo Kühnheit und Opfermut gewertet werden, gilt nicht das Ergebnis des Handelns, sondern das Wollen und die Tat selbst.

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