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Das abgeschlossene Kapitel...

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KARL KRAUS, ARTHUR SCHNITZLER, OTTO WEININGER. Von Hans Kohn. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des „Leo Baeck Institute of Jews from Germany“, Band 6.) J.-C.-B.-Mohr-Verlag, Tübingen, 1962. 72 Seiten, 3 Tafeln. Freu 40 DM. *

Was uns Hans Kohn, der große, au Prag stammende Historiker der New Yor ker Städtischen Universität, vorlegt, is eigentlich ein Requiem: es ist ein mit Liebi und Kenntnis geschriebener Nachruf au jenes Wien, dessen gesellschaftliche Struk tur von Hitler zerstört wurde.

Kohn, der Kenner der Nationalismei vieler Völker, über die er profunde Werki geschrieben hat, ist — bei aller Ancrkcn nung seiner pragmatisch-historischen Ar beiten — aus Neigung und tiefstem Inter esse ein Mann der Geistesgeschichte, sein intime, zum Teil auf persönlichen Bekanntschaften und Freundschaften beruhende Kenntnis der österreichisch-ungarischen Geschichte macht dieses kleine Buch zu einem großen, gibt ihm einen besonderen Reiz.

Romain Rolland in seiner Darstellung des Pariser Judentums im „Jean Christophe“ nicht unähnlich, sieht Kohn im österreichischen und ganz besonders im Wiener Judentum der Jahrhundertwende eine Art Kraft mit zweigerichteter Wirkung: einmal sind die Juden mehr habs-burgische Österreicher als etwa die ans böhmische Staatsrecht denkenden Tschechen, die separatistischen Ungarn, die noch an Polen zurückdenkenden polnischen Einwohner Galiziens; sie sind eher eine Parallelkraft zur übernationalen k. u. k. Armee, die übrigens Konfessionsjuden ungleich toleranter behandelte als die verbündeten Preußen. Witze über die Identität von Juden und Einjährig-Freiwilligen gab es Legion, auf der anderen Seite wiederum war FML. Friedländer eine Zierde des k. u. k. Offizierskorps. Als zweite wichtige Eigenschaft der Juden stellt Kohn — und er ist damit nicht allein — ihre kosmopolitische und daher unprovinzielle Haltung fest. Snobismus, Sympathie, Tradition scheinen die Juden in das westliche Ausland blicken zu lassen — wie übrigens die Franzosen ihren Juden nicht nur die deutschen Namen, sondern auch manchmal deutsche Sympathien vorwarfen, zumindest bis zur Hitler-Ära, die ja den Machtpositionen des europäischen Judentums ein Ende bereitet hat, wenn es solche jemals überhaupt gab, was wir aber um der Diskussion willen affirmativ behaupten wollen.

Jeder der drei meisterhaft geschilferten und analysierten Hauptgestalten seines Büchleins — denn Kohn übergibt uns tatsächlich einen Essay über die Wiener Gesellschaft als solche — repräsentiert einen Teil des Wiener Judentums und immer auch eine Komponente des nichtjüdischen oder, wie man eine Zeitlang zu sagen pflegte, „arischen“ Wiens, denn es handelt sich bei allen drei Denkern um Söhne aus guten, assimilierten Familien.

Arthur Schnitzler ist gleichsam der Aristokrat unter den dreien: Sohn eines berühmten Vaters, von Haus aus an Umgang mit Adel, Patriziat und Universitätskreisen gewöhnt, gefeierter Burgtheaterautor, offiziell-repräsentativ im Sinne Thomas Manns, fortschrittlich gesinnt vielleicht aus Gründen einer ausgezeichneten Ausbildung, aber in bezug auf die Wiener Gesellschaft, die Schnitzler- meisterhaft geschildert hat, durchaus konservativ eingestellt. Karl Kraus hat Schnitzler abgelehnt — Kraus und Weininger standen in Opposition zur gebildeten Wiener jüdischen Bourgeoisie, die Schnitzlers „Heimathafen“ war. Der Rezensent darf vielleicht sozusagen als Fußnote vermerken, daß der Thronfolger Franz Ferdinand und die Herzogin von Hohenberg keine Schnitzler-Premiere versäumten, obgleich der Erzherzog dem Dichter die Veröffentlichung der „Leutnant-Gustl“-Novelette sehr verübelte. Schnitzler und seine Figuren sind schon vom bevorstehenden Untergang ihrer Welt gezeichnet: sie sind nobel, aber nicht immer lebensfähig. So wie ein großer russischer Dichter gesagt hat, es käme alle russische Dichtung seit Gogol aus dessen „Mantel“, so kommen Schnitzler und seine Gestalten — und nicht die wenigsten darunter Wiener Juden, die ja, wenn als „bodenständige Israeliten“ von der Bevölkerung freundlicher angesehen, sehr oft aus Prag stammten — aus der Antecamera von Grillparzers „Rudolf IL“: „Das ist der Fluch von unserem edlen Haus.“

Persönlich-physische Häßlichkeit, Wagner-Verhimmelung und ein unerhört scharfer Intellekt haben den aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kommenden Otto Weininger geformt: dieser Wiener Jude, genialisch in vielen Beziehungen, ganz besonders als Stilist und Wortkünstler, vertritt den schärfsten Rassenantisemitismus j unter den jüdischen Denkern, hat die ganze „Lehre“ vom Judenhaß absorbiert und — bei aller Genialität und Verstandesschärfe — so fragwürdige Begriffe wie „arisch“ und „Ariertum“ als definitive Kategorien übernommen, obgleich ein so hochgebildeter und belesener Mensch gerade hier hätte Zweifel hegen müssen. Weiningers berühmter, der „gottgläubigen“ NS-Theologie präzedierender Ausspruch, es sei Jesus der Jude, der das Judentum am vollständigsten in sich überwunden habe,

und darum der größte Mensch, ist rein historisch nicht nur ganz unrichtig, sondern wird hoffentlich auch bei katholischen Lesern Widerspruch erregen: immer stärker haben die Päpste der letzten Dekaden, ganz besonders seit Pius XL und seiner „Mit brennender Sorge“, die Lehre Christi nicht als Uberwindung, sondern als Erfüllung des Judentums dargestellt.

Zwischen Schnitzler und Weininger steht Karl Kraus im Alter, aber doch stark von dem jüngeren Weininger beeinflußt. Im Gegensatz zu Schnitzler, dem resignierten Schilderer der letzten großösterreichischen Epoche, war Kraus deren unerbittlicher Satiriker, ein Wiener Savonarola. Daher muß auch das moderne, internationale, ganz große Interesse an Karl Kraus und seinem Werk wundernehmen, denn ohne intime Kenntnis Wiens und seiner Gesellschaft ist es einfach nicht zu verstehen, schon gar nicht „Die letzten Tage der Menschheit“ oder die vielbewunderte Einmannzeitschrift „Die Fackel“. Kraus ist immer für wertvollstes Kulturgut eingetreten: ihm ist die Rangerhöhung Nestroys und Offenbachs zu verdanken. Kohn schreibt (S. 60): „Kraus hatte mit sittlichem Pathos und großer Erbitterung die Verschmocktheit der jüdischen Presse Wiens ... bekämpft; er hat im ersten Weltkrieg seine tiefe Erschütterung ___ bezeugt; aber den noch

größeren Gefahren, die das Deutschtum nach 1918 bedrohten und die ihre Wurzeln in der Germanophilie und der Überschätzung nationaler Eigenart hatten, widmete Kraus geringere Aufmerksamkeit.“

Man kämpfte gegen den weniger wichtigen Feind, meint Hans Kohn: Dollfuß setzte der Sozialdemokratie schärfer zu als den Nationalsozialisten, Kraus führte Krieg gegen die „Neue Freie Presse“, als sich bereits der „Völkische Beobachter“ eines viel größeren Einflusses erfreute. Er starb einen Monat vor dem berüchtigten und verderblichen Juliabkommen 1936.

Kohns Buch würdigt nicht nur diese drei Männer: auch andere große Namen des „verjudeten“ Wien tauchen auf. Heute ist Wien „judenrein“: in Österreich und Deutschland hat der Nationalsozialismus diesen „Sieg“ zu verzeichnen. Eines weniger hohen Geistes sei hier gedacht, den Kohn nicht erwähnt, obwohl er Friedrich Heer zitiert (S. 6), der die Provinzialisie-rung Wiens der „Austreibung der Juden aus Österreich“ zuschreibt: der Verfasser gebraucht zwar den Ausdruck „Stadt ohne Juden“, ohne zu erinnern, daß unter diesem Titel der vielbelachte Roman Hugo Bettauers viele Jahre vor dem „Anschluß“ erschienen ist.

Ihr Rezensent muß an die Bemerkung eines Freundes aus adeliger Wiener Familie denken: „Weißt, früher waren mir zu viele Juden im Theater, in der Oper und in den Konzerten, jetzt sind's mir zuwenig!“

Kohn schreibt: „Es ist ein abgeschlossenes, aber kein unrühmliches Kapitel.“ Das objektive Schlußwort dieses großen Historikers.

Houghton, Michigan, USA

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