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Digital In Arbeit

Das andere Amerika

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Seit die USA der machtigste Partner im politischen Gefiige der westlichen Welt geworden sind, haben wir Europaer uns intensiver mit diesem Land auseinandergesetzt, mit seiner politischen, militarischen und wirtschaftlichen Macht, seiner Zivilisation und auch mit manchen seiner Probleme.

Da ist einmal die Automation, die der Wirtschaft nahezu un- begrenzte Mbglichkeiten erbffnet. Sie wirft ein auBerst schwieriges so- ziologisches und psychologisches Problem auf: der Mensch wird scheinbar iiberflussig. Die prazise, fehlerfrei arbeitende Maschine iiber- nimmt nicht nur den groBten Teil des Produktionsprozesses, sondern auch der Verwaltungsarbeit. Dadurch werden in wachsender Zahl unge- lernte Arbeiter, aber auch Ange- stellte und Beamte arbeitslos; Tausende junge Menschen finden keine Arbeitsstellen. Hatte schon die Fa- briksarbeit den schbpferischen Aspekt der Arbeit weitgehend redu- ziert, so war sie doch immer noch Ausdruck eines Beitrages zum Ge- meinwohl; der Mensch wuBte, er war notig, er wurde gebraucht. Nun aber beginnt er, vorlaufig iiberflussig zu sein. So scheint es jedenfalls.

Die Biirgerrechtsbewegung

Selbst wenn soziale Not durch Regierungszuwendungen gelindert wird, trifft man damit nicht das zu- grundeliegende menschliche Problem. Hand in Hand mit der Automation miifite zumindest ein groBan- gelegtes Programm der Umschulung auf weniger bedrohte Berufe gehen, ein Kultur- und Sozialprogramm, um Interesse an kulturellen und sozialen Arbeiten zu wecken. In einem Land, das 60 bis 80 Prozent seines Budgets fur die Riistung ausgibt, ist es jedoch nicht moglich, fur Aufgaben der Umschulung die notigen, riesigen Summen aufzubringen (wobei nicht iibersehen wird, daB President Johnson ein fur die USA ungewohnt groBes Sozialprogramm aufgestellt hat). Ausdruck dieses unerfiillten Lebens sind nicht zuletzt ein rapid wachsender Vandalismus und Ge- walttaten, sind die Rauschgiftsiich- tigkeit von Zwolfjahrigen aufwarts, insbesondere in den dichtbesiedelten GroBstadtvierteln, wo zur Arbeits- losigkeit hinzukommt, daB die ame- rikanische Zivilisation das Familien- leben weitgehend zersetzt hat.

Auf viel breiterer Ebene hat die Rebellion in Watts, dem Negervier- tel von Los Angeles, dieses latente Problem der biederen Mittelklasse vor Augen gestellt. Die Situation in Chikago, New York und anderen GroBstadten ist ahnlich; nur hat die Unzufriedenheit dort noch nicht zur Revolte gefuhrt. Den ganzen Ernst der Situation durchschauend, hat M. L. King tiefgreifende Sozial- reformen in den Industriezentren und den Zugang der Farbigen, ja, aller von der ..affluent society" Aus- geschlossenen zum ArbeitsprozeB ge- fordert.

Hat die durch Mac Carthy ge- kennzeichnete Periode der fiinfziger Jahre die Angehorigen der Opposi-

tion gegen die offizielle Meinung und Politik zu einer „schweigenden Generation" gemacht, so begriindete die Biirgerreehtsbewegung in den USA unter Studenten und Intellek- tuellen, unter Christen und Humani- sten eine neue Epoche. Viele junge Menschen wurden in ihrem Herzen und Gewissen gepackt; sie zogen vom Norden des Landes nach den Siidstaaten, um fur Gerechtigkeit und Menschenwiirde ihrer farbigen Bruder einzutreten, nicht nur mit Wor ten und Liedern, sondern auch in einem Okumenismus des Leidens, nicht selten von der Polizei geschla- gen und mit Gefangnisstrafen be- legt; ja, manche bezahlten den Ein- satz selbst mit dem Leben. Viele die- ser jungen Menschen hat diese Er- fahrung gepragt; sie haben erlebt, was es wirklich heiBt, den Nachsten

— den Farbigen Oder den weiBen Rassenfanatiker — zu lieben wie sei- nen Bruder Christus. Sie haben auch erfahren, welche Macht in dieser Liebe liegt, die Angriff und HaB ab- sorbiert und uberwindet.

Auch fur die Kirchen bedeutete die Biirgerreehtsbewegung eine Wende, Oder, sagen wir lieber, einen neuen Aufbruch. Erst lange nachdem sich die Jugend engagiert hatte, be- gannen einige Kirchenfiihrer, Pastoren, Priester und Ordensfrauen zu verstehen, daB es sich; hier um ein essentielles Problem der Gerechtigkeit und Liebe handelt, das sie nicht iibersehen durften, wollten sie nicht Christus verraten — allzulange hat- ten sie stillschweigend das Unrecht der Rassentrennung hingenommen. Sie wuBten, daB man, wenn es um Recht oder Unrecht geht, Gott mehr gehorchen muB als Casar.

Dann aber brach der Krieg in Vietnam aus, der ein viel schwie- rigeres Problem aufwarf. In der Biirgerreehtsbewegung schiitzte und unterstiitzte die Zentralregierung (Federal Government) die Bestre- bungen der Demonstranten, die die Rechte der Farbigen gegen die Gou- verneure der Einzelstaaten und de- ren Gesetzgebungen durchzusetzen versuchten. Der zivile Ungehorsam, der geleistet werden muBte, war nur ein begrenzter; er wurde von der Zentralregierung und der Konsti- tution gedeckt. Nun aber warf der Krieg in Vietnam in den Gewissen vieler Bedenken auf, die in direktem Widerspruch zur Politik des eigenen Landes stehen. Sie schlossen sich in zahlreichen Gruppen zur Anti- Vietnam-Bewegung zusammen. Diese Bewegung ist, obwohl zahlen- maBig eine Minderheitsbewegung, der starkste Angriff auf die atmeri- kanische AuBenpolitik, der seit dem zweiten Weltkrieg in den USA spurbar wurde.

Die Motivierung und geistige Aus- richtung der zahlreichen Gruppen, die sich gegen den Krieg in Vietnam einsetzen, sind sehr verschieden so wie die Mittel und Wege, die sie be- niitzten, um ihren Widerspruch zum Ausdruck zu bringen. Unter den religios orientierten Gruppen hat wohl der Amerikanichse Versoh- nungsbund die profundeste Arbeit geleistet. Im Fruhjahr dieses Jahres schickte er an 30.000 Pastoren des Landes eine Rundfrage, durch die die Meinung der Befragten ermittelt werden sollte, ob dieser Krieg so rasch wie mbglich durch Verhandlun- gen beendet, Oder ob die Kampfe bis zur Uberwindung des Gegners fortgesetzt werden sollen. Zwei Drit- tel sprachen sich fur eine moglichst rasche Beendigung des Krieges durch Verhandlungen aus. Im restlichen Drittel befanden sich jedoch Stellung-

nahmen, wie die unten zitierte, die eine existente und spiirbare Geistes- haltung zum Ausdruck bringen. '

Aus dem Pfarrblatt „Old Saint Mary’is Church", Chikago USA: „Unsere Unterstiitzung und unser Gebet gilt jenen Mannern — unseren Mannern, die im Dschungel von Vietnam wie Skiaven arbeiten, die in einer unglaublich schwierigen Situation kampfen, die dem Land, das sie lieben, ihre Schuldigkeit lei- sten.

Mit Bedauern blicken wir auf die irregeleitete Jugend, auf die Beatniks, auf jene, denen Demonstrieren zum Beruf geworden ist. Es ist kein Geheimnis, daB diese Leute von Kommunisten angeleitet sind, daB sie schwach sind, ihre Verpflichtun- gen umgehen wollen; daB sie von der GriiBe und den Werten unseres Landes leben und zugleich alles tun, um die Werte, fur die es einsteht, zu vemichten Wie lange sollen wir diese Jungen, die ihren Ein- berufungsbefehl verbrennen, die Zwietracht saen, diese Verrater uns- seres Landes noch tolerieren?"

Demonstrationen als Waffe

Von jenen zwei Drittel der Befragten, die sich fur die Beendigung des Krieges ausgesprochen hatten, schlossen sich 3000 Geistliche, Pastoren, katholische Priester und Rab- biner zusammen und veroffentlichten in einer seitengroBen Annonce in der „New York Times" einen Appell an den Prasidenten, der die Beendigung des Krieges fordert. In der Folge wurde das „Clergy Emergency Committee for Vietnam" gegrundet, dem bekannte Theologen aller Bekennt- nisse angehoren. Dieses Komitee schickte eine Delegation von 12 bekannten kirchlichen Personlich- keiten nach Vietnam, um an Ort und Stelle mit alien engagierten Gruppen (von den amerikanischen Politi- kern und Soldaten, der siidvietna- mesischen Regierung und ihren Truppen bis zu den FLN und Vietkong) Kontakt aufzunehmen. Sie sprachen mit der Bevolkerung in den Dorfern, mit den Fuhrern der Bud- dhisten, die sie insbesondere dazu an- regten, ihre passive Gewaltlosigkeit zu einer aktiven geistigen Macht werden zu lassen. Sie haben auch mit der nordvietnamesischen Regierung Kontakt aufgenommen und Vorschlage unterbreitet. Ihr Bericht, der die ganze Grausamkeit der Kriegsfiihrung und die Sinnlosigkeit der Zerstorung aufzeigt und reali- stische Anhaltspunkte fur Verhandlungen vorlegt, wurde in weiten

Kreisen der USA bekannt und auch der Regierung iibermittelt. Die ge- wiinschte Aussprache mit dem Prasi- denten selbst kam jedoch nicht zu- stande.

Breiteste AusmaBe hat die Pro- testbewegung gegen den Vietnam- krieg jedoch an den Universitaten und Colleges der USA angenommen. Ahnlich wie im Koreakrieg und insbesondere im Algerienkrieg sind es Studenten, junge Menschen, die oft noch nicht einmal das Wahlrecht be- sitzen, die den von der alteren Generation beschlossenen Krieg aus- kampfen miissen mit den bekannten Methoden eines Guerillakrieges, zu denen auf beiden Seiten, wie wir alle wissen, Erpressen, Foltern, Er- schiefien gehdren. Viele Studenten weigern sich, oft spontan aus ihrem menschlichen Gewissen heraus, an diesem Krieg teilzunehmen. Zahl- reiche junge Menschen der USA sagen nein zu diesem Krieg und suchen dieses Nein in der Offent- Ichkeit zum Ausdruck zu bringen. Eine erste Ausdrucksform dieses Protestes sind Demonstrationen und Marsche, zu denen sich junge Menschen der verschiedensten Uberzeu- gung zusammenflnden, um fur den Frieden in Vietnam einzutreten.

Am 27. November (Thanksgiving) veranstalteten alle diese Gruppen gemeinsam eine groBe Kundgebung in Washington, an der 30.000 Demon- stranten teilnahmen. Dabei war be- sonders bemerkenswert der Ernst der Teilnehmer und die groBe Zahl jener, die aus der Mittelschichte ver- treten waren. Die Demonstration ist jedoch nur ein Ausdrucksmittel des Widerstandes, des Versuches, das Gewissen der Verantwortlichen zu er- reichen. Zu oft wiederholt, biiBt sie an Wirksamkeit ein. Immer starker und drangender wird daher unter der Jugend die Frege, wie erreichen i wir die Verantwortlichen, wie kon- nen wir besser Zeugnis geben, wie konnen wir wirksam zur Beendigung dieses Krieges beitragen? Wir wissen, daB es an der Westkiiste, in Berkeley, zu gewaltatigen Zusam- menstoBen kam — sie waren Aus- nahmen. Im allgemeinen stehen die Antikriegsaktionen auf dem Boden der Gewaltlosigkeit, wahrend die rechtsradikalen Gruppen nicht seiten Gewalt- und Terrormethoden an- wenden. (Hier ware die J. Birch Society zu erwahnen und insbesondere die ,,Hbllenengel“, die wie junge, faschistische Sturmtruppen an- muten.)

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