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Das andere Reich

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Abshagen warf über den Zeitungsrand hinweg einen Blick auf Georg. Einen kalten, abschätzenden Blick, einen Blick voller Härte, hinter dem er seine Ratlosigkeit verbarg. Doch die Härte blieb ergebnislos, Georg schaute mit erhobenem Kinn zum Fenster und durch das Fenster auf das Hügelland jenseits des Flusses, über dem das Blau und das Weiß des Himmels und der Wolken spielten.

Ich muß ihn zwingen, ich werde ihn zwingen, dachte Abshagen, obwohl ich nichts von ihm weiß, obwohl ich nie weiß, wo bei ihm der Hebel anzusetzen ist. Ich werde seinen Trotz brechen, alles andere findet sich von selbst. Er ließ dip Zeitung sinken. „Woran denkst du?" fragte er leise und höhnisch.

Georg zuckte zusammen und wandte sich dem Vater zu. „Woran?“ murmelte er befangen. „Du fragst so plötzlich.“

„Ich weiß nie, was du denkst“, sagte Abshagen drohend, „ich will, daß du mich verstehst.“

„Ich versuche, dich zu verstehen.“ Georg hatte sich abgewandt und blickte wieder durch das Fenster hinaus. Seine Stimme klang kühl und verriet, daß er auf der Hut war.

Abshagen überlegte. Abgeblitzt, so komme ich ihm nicht bei. Ich muß ihn bei seiner Ehre packen. Doch wo beginnt bei ihm die Ehre und wo hört sie auf? „Hör zu“, sagte er langsam, „hast du eine Ursache, dich über mich zu beklagen?“ Er betrachtete das Profil des Sohnes, das Profil dieses leidenschaftlichen Gesichts, zu dessen Geheimnissen er keinen Zutritt besaß.

Georg saß regungslos. „Nein. Ich habe keine LIrsache, mich über dich zu beklagen, Vater.“ Das klang wie auswendiggelernt.

Abshagen schwieg. Große Pause, dachte er. Große Pause, vielleicht hilft das, ihn mürbe zu machen. Er ist verschlossen, er strebt von mir fort. Ob er mich haßt? Er ist höflich, er ist korrekt, doch seine Korrektheit ist ein Panzer, ein Panzer, den er mit jeder Geste, mit jedem Wort neu gegen mich aufrichtet. Die Uhr tickte. Das Hausmädchen kam, brachte frischen Tee und ging wieder fort, ein schwarzweißer Schatten auf leisen Sohlen.

„Keiner der jungen Menschen in unserer Stadt hat soviel Freiheit wie du, Georg.“ Dactylen und Jamben, fast ein griechischer Vers, dachte Abshagen undeutlich am Rande seines Bewußtseins, ob daraus vielleicht eine antike Tragödie wird? Der Satz, zurechtgeschliffen für sein Ziel, hing einen Augenblick lang glänzend im Raum, ehe er erlosch. Er erlosch, als die beherrschte Stimme des Sohnes ertönte: „Es kommt darauf an, was du unter Freiheit verstehst.“

„Wie meinst du das?"

Georg zögerte. „Du verfolgst ein Ziel, Vater. Die Freiheiten, die du mir gibst, dienen diesem Ziel.“

„Und?“

„Unter den Freiheiten, die ich genieße, ist auch jene, mich zugrunde zu richten.“

Abshagen lächelte. „Georg, das sind große Worte. Ich dachte immer, die jungen Männer deiner Generation seien trocken, kühl, bestenfalls zynisch — du aber bist pathetisch."

Georg antwortete nicht, deshalb blieb diese Feststellung ohne Widerspruch.

Abshagen zündete sich eine Zigarre an. „Georg, ich verfolge ein Ziel, damit hast du recht", brummte er versöhnlich. „Doch ich habe keine Lust, weiter zu diskutieren. Komm, gehen wir in den Betrieb, die Maschinen stehen still jetzt am Sonntag. Vielleicht verstehst du ihr Schweigen besser als meine Worte.“

Georg erhob sich gehorsam. Er war jetzt ohne Zorn. „Das ist mein Reich, Georg, hörst du, mein Reich, all das habe ich aufgebaut, ich allein“, hörte er später den Vater sagen, als sie das Fabriksgelände betraten, dessen Vorplatz sauber und leer war, die Schritte hallten in der Leere auf Beton, und die Stille, die ihre Schritte umschloß, war wie der Schatten einer erstorbenen Welt.

„Dreißig Strickmaschinen", sagte der Vater sachlich. Georg betrachtete die Maschinen, betrachtete ihre graulackierten und ihre glitzernden Teile, ihre Hebel und Rädchen, die gedrungene Masse der Maschinenkörper, die in drei Kolonnen aufmarschiert waren wie zum Appell, äußerlich regungslos, tot, doch inwendig voller Leben und Heimtücke, und jedes Rad, jedes Zahnrad war wie ein lauerndes Auge, und die Stangen und Hebel warteten auf Wollfäden, sie ineinander zu verstricken, und auf Menschen, sie zu packen, um sie Zu erdrücken und im Inneren der Maschinenkörper mit scharfen Säften zu verdauen.

„Zwölf Webstühle, elektronisch gesteuert“, sagte der Vater, „von der übrigen Einrichtung nicht zu reden!“ Das ist sein Reich, dachte Georg gequält, sein Reich, das er mit Zähnen und Klauen verteidigt und für das er zu jedem Mord bereit ist, sein Reich, in dem ich König werden soll.

Abshagen stand, die Hände in den Jackettaschen vergraben, vor der Reihe der Webstühle. Georg stand gehorsam neben ihm. Ob er mich jemals begreifen wird? überlegte Abshagen. Lebt er auf einem anderen Stern? Versteht er nicht den Wert dieser Anlage, über die er einmal Herr sein wird? Er sieht gelangweilt aus. Wagt er es, sich über mich lustig zu machen? „Du.. .“ sagte er heiser, und seine Stimme war voll Haß.

„Ja?“ fragte Georg, auch er hatte die Hände in den Jackett- taschen vergraben.

Wie er mir ähnlich sieht, dachte Abshagen mit einem Anflug von Befriedigung, die gleiche Gestalt, die gleichen Bewegungen. Doch vielleicht ist die Ähnlichkeit nur eine Maske, hinter der sich der Feind verbirgt? „Du — an deinem achtzehnten Geburtstag hast du einen Sportwagen bekommenᾠ"

Georg nickte.

„Paris, London, Italien, Ägypten, du kannst jedes Jahr verreisen, wohin du willst.“ 1

Georg nickte.

„Habe ich jemals darnach gefragt, wen du aüf deine Rtisen mitnahmst?"

Georg schüttelte den Kopf. Er seufzte.

Abshagen zog die Hände aus den Taschen, und ihm wurde bewußt, daß er sie zu Fäusten geballt hatte. Er zwang sich dazu, beherrscht weiterzusprechen. „Ein Sportflugzeug für Junior, auch darüber läßt sich reden. Das alles leisten meine Maschinensklaven für dich. In zehn Jahren kann der Betrieb dir gehören, horst du?"

Georg antwortete nicht.

Habe ich noch eine Chance, ihn zu zwingen? überlegte Abshagen. „Das alles macht dir keinen Eindruck?“

Georg blickte den Vater an. „Nein“,, antwortete er ruhig.

Abshagen verlor einen Augenblick lang die Beherrschung. „Nein!“ brüllte er, „Du Schmutzfink!“ Doch er bezwang sich sofort zu klaren Gedanken, obwohl er sich am liebsten auf Georg gestürzt hätte, um seinen Widerstand mit den Fäusten zu zerschlagen. „Verzeih", flüsterte er, „doch du hast mir die ärgste Niederlage meines Lebens bereitet. Ist dir das klar?“

Georg berührte die Schulter des Vaters. „Du sollst es nicht so sehen“, sagte er.

Abshagen zögerte. „Gut“, antwortete er. „Große Kehrtwendung. Ich habe dich falsch erzogen. Große Kehrtwendung. Du bist verwöhnt. Ab morgen wird alles gestrichen. Taschengeld, Auto, Reisen. Alles. Du beginnst morgen früh um sieben als Hilfsarbeiter in der Weberei, mit Stechuhr, Lohntüte upd allem Klimbim. Klar?"

Georg hob die Schultern. „Geht in Ordnung.“ Seine Stimme klang fest, fast heiter, die ferne Rückwand des Maschinensaals sandte die drei Worte als Echo zurück: Geht in Ordnung. Gut, dachte er schnell, gut ist das. Das wird mich hart machen, das ist die erste Prüfung. Ich muß endlich wissen, wie ich mit mir selber dran bin. Sie werden mit den Fingern auf mich zeigen. Bin ich noch eitel? Die Arbeiter werden mich nicht verstehen, die Arbeiter nicht und die Freunde nicht. Stechuhr, blaues Arbeitsgewand, Ölkännchen in der Hand, tausendmal der gleiche Handgriff, und Freitag der Lohn, das wollte ich doch. Das ist sauber. Das wird mich reinigen von allem, was war. Ob ich ihm sage, daß ich das wollte?

„Was ist los mit dir?“ Abshagen erkannte bestürzt, das der Schlag, den er sorgfältig geführt, den er lange vorbereitet, er sah, daß dieser Schlag nicht getroffen hatte. „Verdammt noch einmal, bist du ein Kommunist?“ Welche Macht steckte in Georg, welche Macht war in ihm am Werk, daß sie ihn herausbrach aus seinem Reich? Abshagen wußte, daß er den Sohn weniger verstand als jemals zuvor. Das Auto, die Mädchen, das Geld, die Macht, bedeutete ihm das alles nichts? Galt das nichts mehr, dann brach eine Welt zusammen, dann war alles vergeblich gewesen.

„Kommunist? Nein, Vater. Kommunist, das ist eine Sache von vorgestern.“ Georg betrachtete den Vater voll Trauer. Wird er jemals aufhören zu kalkulieren, die Menschen in seine Rechnungen aufzunehmen? dachte er bitter. Sein Reich hat er aufgebaut, er wird niemals verstehen, daß ich voll Hunger, voll Durst bin nach einer anderen Weit, nach einem anderen Reich, das mir keine Prozente einbringt. Hat es einen Sinn, daß ich mit ihm darüber rede? Oder bin ich zu feige, darüber zu sprechen? Das ist es, nach dem Leben, das ich geführt habe, wage ich es nicht, mich dazu zu bekennen, įch will meinen Traum nicht verhöhnen lassen. Die Bartheke war deine Lehrkanzel, würde er brüllen, und die Betten deiner Damen dein Seminar. Das zwingt mich zum Schweigen, mein eigenes Leben steht mir im Weg.

Abshagen war an die Fensterwand des Saales getreten, von wo aus man einen Blick auf den Fluß hatte, der gelassen dahinströmte und Prahme und Ausflugsdampfer voller Menschen trug. Ein Jahr noch kann ich von ihm Gehorsam verlangen, dann ist er volljährig. Die Zeit ist kurz. Ob ich ihn in diesem Jahr doch noch für mich gewinne? „Schau, Georg, das mit dem Hilfsarbeiter war nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht verletzen, ich brauche dich ja Wer soll den Betrieb weiterführen, wenn ich einmal nicht mehr bin? Alles geht zugrunde, wenn du nicht Vernunft annimmst."

„Nein, Vater.“ Georgs Stimme war jetzt voll Wärme. „Ich will lieber Hilfsarbeiter sein. Das bringt mich meinem Ziel näher. Ich tauge nicht dafür, den Betrieb zu leiten. Reklame, Werbung, das widert mich an, ich bringe es nicht fertig, den Leuten einzureden, daß meine Produkte besser sind als andere, ich tauge nicht dafür, ihnen weiszumachen, daß die Mode jedes Jahr wechseln muß, obwohl die Sachen vom Vorjahr noch lange gut genug sind. Ich kann dieses Spiel nicht mitspielem Verkauf den Betrieb, verschenk ihn. Ich will ihn nicht haben.“

Abshagen rückte seine Brille zurecht und betrachtete den Sohn aufmerksam. „Moralisch geworden? Merkwürdig. Das Geld, das du von mir genommen, das du in den Bars und mit deinen Damen ausgegeben hast, das war dir nicht zu schmutzig, wie?“

Georg antwortete nicht gleich. „Ich habe meine Lehrzeit hinter mir“, sagte er nach einer Weile. „Ich habe den Luxus kennengelernt, doch ich habe mich nicht an ihn gewöhnt.“

„Gut“, murmelte Abshagen. „Schluß. Punktum.“ Er stieß die Flügeltür auf und verließ den Saal. Er war bleich, und seine Haltung zeigte, daß er müde war.

Georg folgte ihm. Sie gingen schweigend die Treppen hinab, überquerten schweigend den bedrückend leeren Vorplatz. Er kann nicht anders, dachte Georg voll Schmerz, er glaubt jetzt, daß ich sein Feind bin, er glaubt, daß ich ihn hasse und demütigen wollte. Ich muß ihm begreiflich machen, daß es nicht so ist. Er ist doch einsam in seiner Härte, einsam im Stolz auf sein Werk, das er dieser Welt abgerungen hat.

Sie hatten das eiserne Tor erreicht, das zur Straße führte. Abshagen schloß es auf und trat hinaus.

„Vater?“ Georg stand noch innerhalb der Umfriedung, nur mehr ein Schritt trennte ihn von der Straße.

„Ja?“ Abshagens Stimme klang zerstreut. Ihm war eingefallen, daß er vergessen hatte, Georg nach seinem Ziel zu fragen, nach dem Ziel seiner Narrheit, für das die Armut ein Weg sein sollte.

Georg suchte den Blick des Vaters, doch er fand ihn nicht, denn Abshagen schaute finster zu Boden. „Ich möchte dir nur sagen, daß ich dich nicht kränken wollte."

Abshagen lachte auf, sein Lachen klang scharf und böse. „Kränken? Keine Spur. Ein Narr wie du kann mich nicht kränken. Ich habe eine Illusion gehabt. Jetzt habe ich sie nicht mehr. Das ist alles. Ja, etwas noch Es geht mich ja nichts an, doch was meintest du vorhin mit deinem Ziel?“

Georg spürte, daß sein Herz plötzlich schneller schlug.

Abshagen machte einen Schritt. „Schön“, sagte er rasch, „lassen wir das. Du bist ab heute ein freier Mann, du kannst tun und lassen, was du willst, du brauchst mir nicht zu antworten."

„Ich willᾠ', Georg schluckte vor Erregung, er machte den einen, letzten Schritt, der ihn auf die Straße hinausbrachte, und ließ die Gittertür hinter sich ins Schloß fallen, „ich will versuchen, Priester zu werden“, sagte er. Das ist jenes andere Reich, für das ich arbeiten will, Vater, wollte er noch hinzusetzen. Doch Abshagen war bereits in den Wagen gestiegen und hatte den Motor anspringen lassen. Ob er abfährt ohne mich, ob er abfährt ohne ein letztes Wort? dachte Georg und spürte, daß dies nun die schwerste Prüfung dieses Tages war.

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