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Das deutsche Schattenspiel

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Ein alterfahrener Publizist entwirft im Nachstehenden eine scharfkantige Schilderung der politisch-psychologischen Situation in Deutschland. Man möchte wünschen, daß die Wirklichkeit heller sei. Aber diese Schilderung stimmt mit anderen uns zugekommenen Darstellungen überein. Sie sei als die Stimme eines besorgten Warners veröffentlicht.

„Die Furche"

Wenn man den Zeitungen, dem Rundfunk, den staatlichen Würdenträgern glauben wollte, dann hätte man etwa folgendes Bild von Deutschland: Das deutsche Volk ist zwar enttäuscht, daß es noch nichts vom Wiederaufbau sieht, es ist verängstigt durch die DemoAtagen, es zittert um seine nationale Einheit, es ist aber vor allem glücklich, nach den zwölf Jahren der Tyrannis die Demokratie wieder einrichten und auf die solide Grundlage n'euer Verfassungen stellen zu können, an denen die hervorragendsten Gelehrten und Staatsmänner gearbeitet haben. Das deutsche Volk zerbricht sich seine 60 Millionen Köpfe darüber, wie es seine Kollektivschuld gutmachen, wie es vor allem die Naziopfer, die DPs, die Juden entschädigen, versöhnen and für das neue Deutschland gewinnen könnte. Das deutsche Volk nimmt leidenschaftlichen Anteil am politischen Leben der Welt und des eigenen Quarantänebereiches, es bewundert die großen Demokratien (je nach dem Elbufer die westlichen oder die östlichen), es sucht von ihnen zu lernen, es wacht eifersüchtig über die wiedergewonnene politische und persönliche Freiheit, es ist vor allem brennend interessiert daran, die emigrierten Autoren kennenzulcrnen, expressionistische Bilder zu sehen und zu kaufen, KZ-Romane zu lesen und das Wiederauftreten nationalistischer und militaristischer Kräfte im geistigen und politischen Leben zu verhindern. Ab und zu erhebt der totgeglaubte Nazismus sein Haupt, aber eine wachsame Presse, eine eifrige Polizei und energische Regierungen ersticken solche Versuche im Keime. Ein dunkler Fleck im Bilde bleibt der Schwarzhandel, aber auch der wird von 98 Prozent der Nation abgelehnt, von Regierung, Justiz und Verwaltung zielbewußt bekämpft.

Nun fahre man einmal ein paar Tage auf der überfüllten Reichsbahn durch die deutschen Zonen, man dränge sich auf Bahnhöfen und in den sogenannten Restaurants, stelle sich in die Schlangen vor den Geschäften, unterhalte sich mit Studenten, Schülern, Arbeitern, Hausfrauen und Intellektuellen oder, soweit das gelingt, mit Bauern. Und dann versuche man daraus ein Bild der seelisch-geistigen Lage Deutschlands zu entwerfen. Dieses Bild wird — je nach der Neigung des Beobachters zu Pessimismus oder Optimismus ein wenig schattiert — im wesentlichen etwa so aussehen:

Die deutschen Verfassungen, die Landtage, das ganze politische Leben interessieren neun Zehntel des Volkes überhaupt nicht. Man schimpft lediglich auf die vielen Wahlen, die Versammlungen, den Papierverbrauch. In den oberen Klassen höherer Schulen kann es einem Vorkommen, daß kein Schüler weiß, was eine Verfassung überhaupt ist. Wer kennt auch nur einen Bruchteil der 150 bis 200 Paragraphen einer Länderverfassung! Wer hat denn je die Verfassung gelesen, auch wenn er über sie abgestimmt hat? Die neue Bundesverfassung? Es gibt zwei Parteien: die einen schimpfen über den Separatismus, worunter sie jeden vernünftigen Föderalismus verstehen, und beten alte Goebbels-Schlagworte von der deutschen, nämlich großpreußischen, Einheit nach; die andern schimpfen auf die Ausländer und Preußen, worunter sie jeden Deutschen verstehen, der noch nicht 300 Jahre im Dorfe ansässig ist. Alle Deutschen sind sich darin einig, daß Politik „ein Schwindel", daß die Parteien Klubs -von Kriminellen sind, die sich persönlich bereichern oder einander aus angeborenem Drang beflegeln wollen. Minister und andere „Würdenträger“ werden demgemäß eingestuft. Die Zeitungen und der Rundfunk treiben „Propaganda", das heißt sie „lügen". „Propaganda" ist auch alles, was über die KZler, die SS, die Gestapo und die Nazis überhaupt erzählt wird. Wer im KZ saß, war ein Verbrecher, und Verbrecher wer den „bekanAtlich" nirgends anders behandelt. Opfer dagegen sind die heutigen Gefangenen der Internierungslager und die von der Entnazifizierung nicht entlasteten Pgs. Die DPs? Wir wollen lieber nicht wiedergeben, was über sie gesprochen wird. Ganz allgemein werden sie für den Schwarzhandel und die ansteigende Kriminalität und Rechtsunsicherheit verantwortlich gemacht. Daß sie nur mit den Produkten handeln können, die sie bei deutschen Urproduzenten gekauft haben, will der Mann auf der Straße nicht begreifen. Die Alliierten? Das Flüstergerücht

— längst nicht 'mehr geflüstert, sondern laut und vernehmlich weitergetragen — der wirkliche Beherrscher der öffentlichen Meinung, berichtet am laufenden Band, daß 1. die „Amys“ beschlossen haben, die Deutschen überhaupt auszuhungern, 2. sie wenigstens drei Jahre hungern zu lassen, damit die 20 Millionen Deutschen, die zuviel sind, erst wegsterben, 3. demnächst der Krieg ausbreche und die SS bereits wieder aufgestellt sei, 4. die Deutschen, die bekanntlich die Atombombe besaßen und sie nur aus Humanität nicht angewendet haben (der Führer konnte es nicht übers Herz bringen), nun für Amerika arbeiten, 5. alles, was diesen Ansichten widerspricht — mit bedeutungsvollem Augenzwinkern: „natürlich Propaganda“ sei. Dasselbe kann man ebenso hören, wenn man Amys durch „der Iwan“ ersetzt.

Man täusche sich nicht darüber, daß dies etwa nur die Stimmung der Alten sei. Im Gegenteil, gerade die jüngere Generation denkt meist so. Daß sie an den gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnimmt, die ihr die Amerikaner bieten, daß sie Baseball spielt, auch Vorträge anhört, das ist eben „Taktik", „Tarnung“ und wieder: „Propaganda“. Daß Landtage, Bürokratie, Regierungen gegenüber dem Schwarzhandel, dem Ernährungsproblem, der Kriminalität, der Flüchtlings- und Wohnungsfrage versagen, daß sich Korruptionserscheinungen zeigen, daß man in Bayern einen Minister verhaftet und nach seiner Flucht nicht wiederfindet, obwohl er — wie einst Adolf — aus dem Versteck seine „Bewegung“ leitet und mit den Behörden verhandelt: all das, was die Presse der Besatzungsmacht aufzeichnet und mit Witz und Polemik zu bessern versucht, das ergänzt dieses Bild der Widersprüche und Verzerrungen. Auf allen Anstandsorten liest man Verse, die das goldene Zeitalter der Nazis verherrlichen uncĮ der Hoffnung auf Hitlers Wiederkehr poetischen Ausdruck verleihen.

Das Gefährliche an dieser Situation ist nicht einmal, daß zwei Jahre nach dem Zusammenbruch die Stimmung der großen Masse des deutschen Volkes so beschaffen ist

— will sagen jener 60 Millionen Bettler, die man deutsches Volk nennt. Das Gefährliche ist vielmehr, daß man diese Stimmung offiziell nicht wahrhaben will. Daß man krampfhaft an der Illusion festhält, die Parteien seien das deutsche Volk und die Presse die öffentliche Meinung.

Die Ursachen der tristen Lage sind unschwer zu ergründen: Die von allen vernünftigen Deutschen abgelehnte, viel zu früh begonnene Politisierung Deutschlands; sie wäre zweckmäßig und zeitig genug in dem Augenblick gekommen, da die Säuberung abgeschlossen gewesen wäre und der Wiederaufbau hätte beginnen können. Weiter die Art der Durchführung der Entnazifizierung: schematisch, in Verkennung der wirklichen Zusammenhänge, zu milde auf der einen, zu schleppend und zu pauschal auf der anderen Seite, durch Kammern, denen das Volk, da sie aus Parteivertretern zusammengesetzt sind, keine Objektivität zutraut; das Wirtschaftselend, der Flüchtling s- j a m m e r, die mit der bevorzugten Lage der DPs kontrastieren und Haß erzeugen; die Umerziehung, die nicht nur Zonen-, sondern ämterweise verschieden mit den einander widersprechendsten Methoden durchgeführt wird, so daß nicht viel anders als einst bei den Nazis die Rechte nicht weiß, was' die Linke tut, und eine Behörde die andere desavouiert; die Traditionslosig- k e i t dieser ganzen Verfassungs- und Gesetzesmacherei, die mit einem lebendigen

Volk umspringt wie mit den Versuchskarnickeln eines biologischen Instituts; die Anwesenheit von zehn oder zwölf Millionen Vertriebenen, deren zum Himmel schreiendes Elend, deren Erlebnisse und Schicksale die denkbar unpassendste Kulisse zu der Stimmung von Reue, Einkehr und Wiedergutmachungswillen sind, welche man vom deutschen Volke verlangt; entscheidend aber: der Ausfall der.einzigen Führungsschichte, die über ein Maß von Vertrauen, über ein organisch gewachsenes Programm und vielleicht über die kämpferische Energie verfügte, mit dem Nazismus aufzuräumen; die Terrorwelle nach dem 20. Juli hat uns diese Schichte geraubt; sie ist künstlich nicht zu ersetzen. Dies wird verschärft durch die Säuberungsgrundsätze, die den wenigen Überlebenden der Widerstandsbewegung Spruchkammerverfahren an- hängen, während die Masse derer, die vorsichtig das Ende abgewartet haben, Leute ohne Mut und Einsatzbereitschaft, als Politiker und Publizisten öffentliche Meinung spielen — in jenem Schattenspiel, das die wirklich große Gefahr ist, weil es einer einzigen noch in Reserve stehenden politischen Kraft Deutschlands, dem Nationalbolschewismus, Sammlung und Aufmarsch ermöglicht.

Abhilfe? Rettung? Theoretisch wäre es nicht schwer, sie zu finden. Praktisch ist es hart, aus der Lage, wie sie Potsdam geschaffen hat, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen.

Die Demokratie kann mit dem militärischen Regime nicht verkoppelt werden. Nötig wäre also Ersatz derMili- tärregierung durch ein ziviles Regime, etwa einen alliierten Gouverneur, der weitgehende Vollmachten, aber einen kleinen Kontrollapparat, keine um fängliche Bürokratie, zur Seite hätte (ich könnte mir einen großartigen demokratischen Lenker für Deutschland vorstellen: Herbert Hoover). Zulassung aller Parteien und jeder Presse, damit man ein Bild der wahren Volksmeinung erhält, dann aber Einschreiten gegen die Parteien und Publizisten, die der Erneuerung der Tyrannis und des Militarismus, der Unmenschlichkeit und des Antichristentums das Wort reden. Nötig wäre eine zielbewußte Umerziehung durch Anknüpfen an jene deutschen Traditionen, die durch die Verpreu- ßung Deutschlands einst unterdrückt wurden; eine konservative Politik, die den Wünschen jener Deutschen entspricht, die dem Nazismus innerlich am längsten und entschiedensten Widerstand geleistet haben; Verzicht auf die Propagierung all jener „Ismen“, die dem Massenwahn des 20. Jahrhunderts entspringen und von den gediegenen Menschen Deutschlands abgelehnt werden: eine sinnvolle Schul- und Erziehungspolitik mit dem Ziel der Heranbildung einer christlich und humanistisch gerichteten Elite statt des Massenbetriebes einer Einheitsschule, die Millionen Halbgebildete, Millionen Adepten des Nationalbolschewismus schafft. In Verbindung mit einem wirtschaftlichen Wiederaufbau, wie ihn der Marshall-Plan und ein neuer Industrieplan einleiten könnten, wären das Voraussetzungen für eine Gesundung. Die größte Katastrophe Deutschlands war das Mißlingen des 20. Juli 1944. Es werden sidi leicht die Verbindungen zu älteren Überlieferungen finden, welche die Grundlagen eines neuen Deutschland, nämlich eines aus den Wurzeln seiner Geschichte organisch weiterwachsenden deutschen Europäertums, eines christlich-deutschen Humanismus, werden könnten.

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