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Das Dilemma mit dem Forischriii

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Ueber Architektur eine Meinung zu haben, ist heute keine einfache Sache. Die Zeiten sind vorbei, da man über proportioneile Feinheit sich mit Recht ereiferte, da es einen Sinn hat, etwa durch Aufstellen von Schablonen die „Harmonie“ eines höheren oder niederen Baukörpers zu überprüfen. Heute geht es um das Grundsätzliche, ja um die Berechtigung oder den Nutzen, Grundsätze zu haben. Denn: Wenn früher Regeln herrschten, die man maßvoll beim neuen Stil änderte, so zeichnet sich die neueste Form doch gerade dadurch aus, daß sie die Regel, jedeRegel,, in Acht tut. Man läßt jede Form und jede beliebige Kombination zu — soweit sie nicht eine Tradition andeuten — und macht da-, durch „die Persönlichkeit frei“. Die primären Baukörper sind rechteckig, schief oder krumm, die Gesimslinien sind manchmal horizontal, öfters steigend oder fallend, das Kunterbunt der Fensterformen erscheint lustig wie ein frech gedrucktes Plakat. Genau wie im Verkehr der Menschen untereinander hat die Regellosigkeit einen unleugbaren Reiz — es fragt sich nur wie lange. Dies alles soll womöglich ganz ohne Ironie verstanden werden, als ein melancholisches Einbekennen, daß die Welt nun einmal so ist.

Wenn man nun als Verwalter der schönen Künste, als Kritiker oder als Lehrer die Pflicht hätte, auf die Entwicklung eines nationalen künstlerischen Charakters Einfluß zu nehmen, so ergeben sich aus obiger Konstatierung schicksalsschwere Fragen: Soll man oder muß man verständigerweise die Gärung fördern oder wenigstens auskochen lassen, weil in ihr der Keim einer weltumspannenden neuen Architekturform enthalten sein kann? Weil außerdem ein Start von einer europäischen oder japanischen oder sonstigen Architekturform unmöglich ist? Oder soll man den Standpunkt einnehmen, daß Kultur unweigerlich eine Anerkennung des Vorhandenen bedeutet, das aus Regeln entstand und ohne ihre Beachtung undenkbar ist? Die zweite Haltung zielt — so nennt es Schopenhauer — auf „Individuation“, auf Bewahrung und mähliche Weiterführung der Eigenart bestimmter Kulturkreise. Die erste aber ist bewußt oder unbewußt auf etwas viel Größeres gerichtet: Auf die Verschmelzung der Eigen-aiten zu einem weltumspannenden Ausdruck (wo also, falls das Bild erlaubt ist, Griechisch und Mexikanisch wie Lämmlein und Pardel im großen Baukunstgarten weiden).

Grundsätzlich besteht in der Kunst sowohl die Möglichkeit des Regelhaften wie des Regellosen. Das Erste, ungeheuer Starke, Konservative ist in ein Dutzend rechtgläubiger Gruppen gespalten. Es hat keinen Mund, weil der streitbare Intellekt die andere Art, den Fortschritt, gegenwärtig für reizvoller' findet. Zusammen sind sie das Abbild der Zeitlage, in der das Individuum zur Anarchie neigt und die aus Selbsterhaltungstrieb unternommenen Versuche der Menschen- und Staatsführung als Uebergänge empfindet.

Die Gespaltenheit hat gewaltige praktische Folgen: Z. B. kann ein Baumeister unmöglich einen Wettbewerb gewinnen, bei welchem der wichtigste Juror dem andern Bekenntnis anhängt. Dieses persönliche Malheur ist nicht sehr wichtig. Aber es ist ein Teil der Verwirrtheit, welche verursacht, daß andere um so verstockter den Maria-Theresia- und Weinhauerstil betreiben. Die mittleren revanchieren sich für den intellektualen Hochmut derer, die sich im Denken und im.Fühlen aus der Reihe stellen. Es ist unmöglich ihnen eine „Weltarchitektur“ schmackhaft zu machen, welche die kleine noch gültige Symbolik, die Bindung an die Vergangenheit, die Voluten, Gesimse und Säulen wegsäbelt, da solche Tradition den zu gewinnenden fernstehenden Völkern einfach nichts besagt. Aus einem großen und wunderbaren Ziel, dem geistigen Weltstaat, dem Kant schon anhing, entsteht also folgerichtig der nackte und armselige Stil, welcher weder österreichische noch französische noch italienische Reminiszenz enthalten darf. Ihn lehnen die Massen ab. Sie bauen, wie ihnen der Ziegel gewachsen ist. Einsam und unverbunden stehen die Talentbeweise der vorstoßenden Moderne gleich dem genialen und dennoch überlebten Sezessionsgebäude zwischen den Belanglosigkeiten. Gerade durch Talent, durch das Sich-nicht-einfügende, das zuchtlose Talent,. wird das Stadtbild gestört. Die Halbtalente, die aus Eitelkeit mit dabei sein müssen, die die Krücken fortwarfen, die ihnen eine Tradition an die Hand gegeben hätte, machen — von den Wegbereitern geduldet — mit Saft- und Kraftlosigkeit und Prätext den eigentlichen Schaden. Das Geniale würde man dulden und lobpreisen, wenn es nicht durch die Mitläufer diskreditiert würde.

Wer wünscht nicht, daß jedem Versuch einer Befriedung — auch der Befriedung widerstreitender stilistischer Eigenart —, Chancen gegeben werden? Man kann aber nicht bedingungslos Schlagworten nachlaufen. Es müßte einige Wahrscheinlichkeit bestehen, daß die neuversuchte Weltumspannung nicht ebenso kläglich endet, wie die Stilversuche, die wir nun seit 100 Jahren erleben. Das Streben, in einen gesamtmenschlichen Strom einzumünden, ist, so gesehen, wahrscheinlich den europäischen Vereinbarungen zu vergleichen, die jeder gutheißt und von der ernste und kenntnisreiche Männer fürchten, sie vergrößern die Verwirrung. Im Geistigen zumindest scheint es nicht sicher, ob die Vermischung oder die Verpersön-1 i c h u n g die größeren Chancen hat. Schopenhauer und Goethe waren wohl der Ansicht, daß der Atem des Weltgeistes sich im Rhythmus mit dem einen Prinzip hebt, dem anderen senkt. So könnte es sein, daß nach hundertjährigem, stürmischem Fortschritt das Anliegen nach Sicherung des Erreichten in Regel und Stil als das Wichtigere sich erweist. Eine geistige Marktanalyse wäre anzustellen, um ein so wichtiges Urteil verständig zu unterbauen. Hätten wir Männer, welche die Architektur der Welt so kennen wie es im europäischen Bereich die Minister Maria Theresias oder Franz Josefs vermochten, so wäre eine Stellungnahme zu den Aussichten von Konservativ oder Modern möglich. Es hat aber trotz der Bildjournale niemand vergleichbare Uebersicht, weil diese die Erscheinung verzerren. Wer getraut sich zu sagen, ob die neue Avantgarde ein Fortschreiten verspricht, oder ob sie einfach mit der Rolle des expressionistischen Zackenstils von 1920 gleichzusetzen ist? Selbst namhafte Architekten wurden damals von der Strömung mitgerissen und bereits 1930 versteckten sie ängstlich die einst so interessanten Bilder ihres ein Jahrzehnt zurückliegenden Stürmens und Drängens. Wer vermag über die Hauptwerke ein Urteil zu sprechen? War die Londoner Ausstellung, deren Formen von den architektonischen High-brows als ein Fanal entworfen wurden, ein stilistischer Erfolg oder ein Mißerfolg? Ist die unverkennbare Beruhigung des Schweizer Stils im Zentrum Zürichs oder Basels zukunftsreich? Oder wird der eben fertige formal-extreme Flugbahnhof Klothen richtungsweisend sein? Sind die aufgespaltenen Millionär-Stockwerkseigentum-Häuser in Rom-Parioli die viele Druckerschwärze wert, weil sie unzweifelhafte Temperamentausbrüche darstellen? Muß man das kraftvolle Auftreten Deutschlands im Architekturzirkus deshalb für wichtig halten, weil unverhältnismäßig stärker als bei der englischen Avantgarde die ratio ihre Rolle spielt?

Oesterreich hat im Wettkampf momentan den Ball zu machen. Es ist vielleicht gar nicht möglich, gegen die mächtigen literarischen Wettermacher, gegen die ausländischen Journale, eine österreichische „Kulturpolitik“ zu. betreiben. Immerhin ist es nicht schlecht, sich den Kopf zu zerbrechen, warum der größte Teil unserer Bauten reaktionär ist und das viel berühmte „gesunde Volksempfinden“ mundtot grollt und nicht imstande ist, einen Weg zu finden, wie man zugleich österreichisch und modern sein könnte. Zu guter Letzt muß man eingestehen: Die Abneigung des gemeinen Mannes gegen durch 100 Jahre sichtbar bleibende Experimente hatte auf die Dauer eher Recht als die seit der Sezession sich im Zehnjahresrhythmus auf- und sanglos abtretenden Avantgarden. Der literarische Aufschrei verschwand in der Schublade. Der architektonische besteht. Die Schulen hätten weniger den Wert auf das individuelle Bekenntnis, sondern auf das architektonische Handwerk zu legen.

Es wäre aber auch möglich, daß man als Leiter einer Schule für möglichst viele „Richtungen“ sorgt, die Schüler nach allen Seiten zerren läßt, damit sie sich selbst entscheiden.

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