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Das diskrete Ja zur Welt

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DIE MEROWINGER oder DIE TOTALE FAMILIE. Roman von Heimito von Do der er. Biederstein-Verlag, München, 1962. 368 Seiten. Preis 16.80 DM.

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DIE MEROWINGER oder DIE TOTALE FAMILIE. Roman von Heimito von Do der er. Biederstein-Verlag, München, 1962. 368 Seiten. Preis 16.80 DM.

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Wie die Fama entstanden sein mag, dies - ei ein heiterer Roman oder ein Buch der Wut des Autors, ist unschwer zu erraten. Denn wir begegnen einem vielschichtigen Werk — fünf Schichten glaubten wir bei erster Lektüre wahrzunehmen —, in dem sich manch einer, zu Unrecht, zu Hause fühlen wird und nur wenige zu Recht. Wird man sich auch bei den Stellen wie etwa der wissenschaftlich-trockenen Schilderung des dreigliedrigen therapeutischen Wutelements (der Patient wird unter wirksamen Vorkehrungen und mit Hilfe einer Nasenzange normalisiert) vor Lachen biegen, so gibt es doch in dem gesamten Werk weder ein Gelächter noch einen anderen Ausbruch, dem nicht ein Schauder auf dem Fuß folgte. Ein Mann wie Dode-rer schreibt eben, selbst so er sich's vornähme, nicht einfach ein heiteres Buch, sondern stets ein Werk in jenen Dimensionen, die seinem Rang entsprechen. Er sprengt jede Verengung der Form, jede Verabsolutierung von Ideen, jede Tyrannis eines Inhalts kraft des inneren Befehls, Ganzheit zu schauen und zu schaffen.

Im Mittelpunkt des Buches, das auf Anhieb, in der äußeren Schicht, sich als Schlüsselroman zu gebärden scheint, steht ein skurriler, ja grotesker Zeitgenosse, Childerich III., ein Nachfahre aus mero-wingischem Geschlecht, der bestrebt ist, durch ein kompliziertes System von Heiraten und Adoptionen sämtliche erreichbaren Verwandtschaftsgrade in seiner Person zu vereinen, dem es also gelingt, sein eigener Vater, Großvater, Neffe, Onkel usw. zu werden. Die dergestalt erzwungene Totalität der Familie auch auf Vermögenswerte ausdehnend, gerät er in Konflikt mit ganzen Sippen, wird überwältigt, entmannt und zu einem Schattendasein verurteilt. Und mit seinem Sohn Schnippedilderich wird sein Stamm erlöschen.

Wer sich ans Skurrile und Groteske hält, mag das Werk amüsiert und befriedigt aus der Hand legen. Wer tiefer gräbt, wird jene Schicht entdecken, in der es sich, berstend vor Hohn und Spott, als Wutausbruch eines mit dem Lauf der Welt zutiefst unzufriedenen Dichters präsentiert, der boshaft mit der Waffe der Lächerlichkeit tötet, was ihm mißbehagt, wird aus solchem Terrain Fund über Fund ans Tageslicht fördern, Karikaturen aktueller Zustände, Moden, Denkschemata und Personen. Er wird das Buch, ergötzt und nicht ohne besonders anzügliche Stellen im Freundeskreis vorgelesen zu haben, zuklappen. Womit er sich des tieferen Gehalts beraubt.

Denn erst wer bis zur dritten Schicht des Verständnisses vordringt, erkennt, daß, was manchem Literaturerzeugnis zur Ehre gereichen würde, nämlich treffende Anspielungen und Florettgefechte des Spotts, so atemberaubend kunstvoll sie auch erscheinen, doch nur äußerliche Attribute eines Wortkunstwerkes sind, dessen Untiefen es erst auszuloten gilt. Aha, das Buch läßt sich auch als Hohlspiegel lesen, könnte es nun heißen, als Traktat eines Moralisten, der durch die Beschwörung des Zerrbilds, die Welt verbessernd, ein Wunschbild zu bannen sucht. Gewiß, auch das läßt sich selbst aus den burleskesten Abenteuern noch herauslesen und wäre als Lesefrucht recht respektabel. Doch zugleich falsch.

Denn, nun kommen wir zur vierten Schicht, Doderers Spott und Wut — nicht nur in diesem Buch — sind mehr als sie scheinen: Sie sind stets zugleich auch ihl dialektisches Gegenteil, sie heben sich faßt man sie scharf ins Auge, selbst aufl Wer sich auf das Abenteuer einläßt, sei es in seinem Hauptwerk „Die Dämonen“ sei es in einem anderen Buch, sei es jetzt in „Die Merowinger“, mit Doderer zu lachen, zu spotten, zu schelten, der spürt, daß jede solche Emotion zu ihrem Gegenteil führt: zum Erschrecken, zur Einsicht in die Tragik eines Menschen, zur Erkenntnis, daß dieser Mensch oder jener Umstand nicht anders sein kann (und soll.'), als er auf Grund unzählbarer Imponderabilien eben ist. Wer so weit gedrungen ist, dem sei zugetraut, daß er solche Wirkung nicht auf einen mehr oder weniger versteckten Fatalismus des Autors zurückführt, sondern auf ein großes, ebenso diskretes wie mannhaftes Ja zur Welt, wie sie nun einmal ist, zur Welt, in der Spott und Wut ebenso wie deren Anlässe die (bescheidenen) Plätze einnehmen, die ihnen zustehen.

Solche Erkenntnisse aus solchem Buch zu schöpfen, ist schon so viel, heißt schon so reich beschenkt sein, daß die Frage nach einem Mehr und Tiefer unvernünftig scheint. Und doch ist sie berechtigt, denn, fünftens, nach solchem Präludium, nach leisem Schmunzeln und lautem Gelächter, nach allerlei Freude und Schadenfreude über erfolgte Demaskierungen, nach der Entdeckung sogar, daß die kühne Demas-kierung selbst nur eine Maske ist für etwas, das dahinter steht, nach der Konfrontation mit diesem geheimnisvollen Dahinter, die es als Ja zur Welt schlechthin ausweist, nach all dieser Anstrengung muß nachgetastet werden, woher die Kraft zu diesem Ja kommt.

Ist es in den oberen Schichten dieses erstaunlichen Buches nicht allzu schwer, hinter diese oder jene vornehmlich formalen Schliche Doderers zu kommen, je tiefer man gräbt, um so zögernder wird man Einsichten und Urteile in Worte fassen. Denn hier, wo der Primat der Form zurücktritt, hier, wo Form und Inhalt zu Aspekten derselben Sache werden, in einer Identität, deren Umrisse kongruent sind mit letzten, die Person des Schreibenden ausmachenden Mächten, gerät man in die Nähe unsagbarer innerster Geheimnisse, die sich dem Zugriff entziehen. Doch was wir im Vorfeld dieser letzten Dinge zu sehen vermeinen, ist bedeutsam und erregend genug.

Gleich, ob wir uns durch dieses Werk um ein großes Narren- oder aber um ein ebensolches Weisheitsbuch bereichert sehen, gleich, ob an Childerichs Sippe Zeitphänomene wie das Tausendjährige Reich nahezu spurlos vorbeigleiten, ob wir eine Persiflage europäischer und „teutscher“ Geschichtsauffassung, gespickt mit aktuellen Ironismcn. festzustellen glauben oder einer Desavouierung der Hybris der Wissenschaft oder dem Aufspießen zahlreicher kleiner und großer Egoismen, die imstande sind, das Leben zur Hölle zu machen, beiwohnen: Wer imstande ist, das Buch ernst zu nehmen, wird dahinter eine Potenz der Integration wahrnehmen, die ihresgleichen sucht.

Integration in Kunst, Philosophie und Religion aber heißt, das Paradoxe und das Absurde als Daseinsphänomene nicht nur bestehen zu lassen, sondern willig anzunehmen. Heißt weiter, Wirrsal, Drang, Feindseligkeit und Schmerz des Lebens einzubauen in eine Schau, in der, wie Gabriel Marcel sagen würde, „die Hoffnung mit dem geistigen Prinzip selbst zusammenfällt“, in der Hoffnung zugleich supra-rational und supra-relational ist, nämlich Transzendenz bedeutet. Aus zahlreichen Anmerkungen, die auszuführen der Raum fehlt, sei etwa der Hinweis gewählt, daß selbst der grimmigste Witz rund um „Die Merowinger“ weder Revolte noch Zerstörung bedeutet, sondern die zeitlose Hierarchie der Werte bestehen läßt, ebenso jene der Unwerte. Während die Ironieeffekte moderner Dichtung fast ausschließ-

lich der einseitigen Verabsolutierung bestimmter Standpunkte entstammen (von Günther Grass etwa bis hinauf zu Brecht, Beckett, Dürrenmatt, um Beispiele zu nennen), verabsolutiert Doderer nirgendwo. Er ist den Dingen, wie sie sind und wie er sie sieht, treu, er vergewaltigt weder was er liebt noch was er haßt, er ficht seine Turniere mit ritterlicher Gelassen? heit und Diskretion aus, die ihn zum letzten Ritter unserer Literatur machen. Oder zum ersten Ritter einer neuen Periode, die vielleicht imstande sein wird, die konser-vativ-bewahrende und die revolutionäraggressive Urgebärde der Menschheit in-eins zu schauen. Johann A. Bo eck

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