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Das Dorf verändert sein Gesicht

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In den meisten Gegenden Oesterreichs ist die Zahl der Bauernhöfe durch Jahrzehnte, meist sogar durch Jahrhunderte, unverändert geblieben. So wurden z. B. in Mold bei Horn im Jahre 1320 59, im Jahre 1957 45 Bauern- und Kleinhäusleranwesen gezählt. Daneben gab es noch 23 in jüngster Zeit errichtete Wohnhäuser von Personen, die in der Landwirtschaft keine ausreichende Beschäftigung fanden, mit dem Dorf aber doch so verwurzelt sind, daß sie ihren Beruf — meist als „Pendler“ — nun von ihrem Heim aus ausüben und daneben noch einen kleinen Acker betreuen. Durch Jahre haben sie, von ihrer Frau (aber nicht mehr von ihren der Landwirtschaft entfremdeten Kindern) unterstützt, in der Freizeit das Feld bewirtschaftet. Dann aber, wenn sie von dem geringen Erfolg ihrer Bemühungen überzeugt sind, verkaufen oder verpachten sie es oder lassen es sogar einfach ungenutzt liegen („Sozialbrache“).

Diese nicht bäuerlichen Dorfbewohner unterscheiden sich aber in ihrer Einstellung zum Leben wesentlich von den Abwandernden. Diese haben in der Regel in der Stadt sehr rasch die Verbundenheit mit der Scholle und den bäuerlichen Sinn für den eigenen Besitz verloren. In dem im Dorf Verbliebenen aber ist das Streben nach Eigentum und Boden wachgeblieben. Er bringt dafür gerne Opfer und sichert sich dadurch Krisenfestigkeit für den Fall der Arbeitslosigkeit und des Alters.

Durch den Bau von Häusern ohne nennenswerten landwirtschaftlichen Charakter, meist in einem Bogen rings um die „Urhäuser“, wird aber der Rahmen des Dorfes gesprengt und der bäuerliche Felderbesitz vom Dorfkerh abgetrennt. Zugleich ergeben sich in zunehmendem Maße gegensätzliche Interessen zwischen den alten Und den neuen Gemeindeangehörigen.

So weist das Dorf von heute ganz verschiedene Strukturen auf, die sich ungefähr so gruppieren lassen:

1. Die Zahl der kleinsten und kleinen Betriebe geht ständig und stark zurück: In Niederösterreich z. B. verringerte sich die Zahl der weniger als zwei Hektar umfassenden Betriebe von 47.483 im Jahre 1930 auf 37.684 im Jahre 1951, in ganz Oesterreich von 145.161 (ohne Burgenland.') im Jahre 1902 über 118.783 im Jahre 1930 auf 105.213 im Jahre 1951. Ein Teil der Zwergbauern hat, neben der Landwirtschaft immer schon ein Handwerk oder einen Laden betrieben. Im Laufe der Zeit wurde aus dieser Beschäftigung ein Hauptberuf, neben dem wegen der zeitlichen Bindung an den Witterungsverlauf der landwirtschaftliche aufgegeben werden mußte.

2. Hand in Hand mit dem Rückgang des Klein- und Kleinstbesitzes, einer gelegentlichen Aufsplitterung „auslaufender“ Höfe (die von keinem Erben übernommen werden) und häufig auch einer Verringerung der dem Großgrundbesitz gehörigen Fläche vollzieht sich eine „Aufstockung“ gesunder Kleinbetriebe. Als — freilich nicht immer erreichbares — Ziel gilt aber nicht mehr der „große“ Hof, zu dessen Betreuung eine Schar Landarbeiter erforderlich ist, sondern der „Einmannbetrieb“, der vom Bauer und seiner Familie allein bearbeitet werden kann.,

3. Der Großgrundbesitz erhält durch den Verkauf der in den Nachbarorten gelegenen Grundstücke die Mittel, um den nunmehr zusammengefaßten Besitz ausgestalten und mit weniger, aber besser bezahlten und hinter neuzeitlichen Maschinen wirtschaftlicher eingesetzten Hilfskräften besser bewirtschaften zu können.

4. Die Zahl der in der Industrie tätigen Dorfbewohner nimmt stark zu und — mit deren Angehörigen — auch die der Einwohner überhaupt. Die Schaffung von „Industrien im Grünen“ ist zu begrüßen. Den Menschen, die in der Landwirtschaft keine Verwendung finden, werden Verdienstmöglichkeiten eröffnet. Zugleich wird • die Ballung der Industrie in Großstädten hintangehalten und eine gleichmäßigere Verteilung der Bevölkerung über das ganze Land erreicht. In erfreulich vielen Fällen bleibt trotz der Gründung von Industrien der dörfische Charakter erhalten, wenn die industriellen Anlagen nicht allzu ausgedehnt sind.

5. In den Dörfern ohne Industrie nimmt die Zahl der „Pendler“ stark zu, das sind jene Personen, die sie regelmäßig, meist tagtäglich, verlassen, um in einem auswärts gelegenen Ort zu arbeiten. (Die vielen Autobuslinien, die billigen Arbeiterkarten der Eisenbahn und vor allem das Moped machen das Pendeln auch auf größere Entfernungen möglich.) Die mit diesem in ursächlichem Zusammenhang stehende Verbesserung der Verkehrsverhältnisse beeinflußt gleichzeitig auch das Leben im Dorf: Die aufgeweckteren Kinder besuchen städtische Haupt-und Mittelschulen. Allen Dorfbewohnern wird die Verwertung verschiedener Erzeugnisse, der Einkauf in leistungsfähigeren Läden sowie die Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen in der nunmehr nähergerückten Stadt ermöglicht, wodurch wieder weitere neue Lebensformen und -ansprüche in das Dorf getragen werden.

6. In vorläufig noch recht wenigen Orten, in denen die in jedem gesund fühlenden Bauern einwohnende Pflicht, jedes Stück Land bestmöglich zu nutzen, verschwunden ist, macht sich bereits auch in Oesterreich schon die Erscheinung der „Sozialbrache“ geltend.

Im Ganzen also hat das Dorf in den letzten Jahrzehnten, besonders aber — oft über Nacht — nach dem Krieg, sein Gesicht, aber auch seine Art sehr stark geändert. Es können gewisse Gleichmäßigkeiten in der Umstellung festgestellt v/erden. Sie machen sich aber von Dorf zu Dorf verschieden rasch und unterschiedlich stark bemerkbar, je nach der Eigenart seiner Bewohner und der gesamten Umwelt.

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