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DAS ENDE DER STADT WE

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Die Stadt We im Tal der fruchttragenden Berge war so reich geworden, daß jeder ihrer Bewohner mindestens fünf Goldzähne hatte und alle, aus Zufriedenheit mit sich selbst, nur noch durch die Nase sprachen. In dieser Zeit des unverdienten Wohlstandes ereignete sich das unfaßliche Schauspiel einer Meinungsverschiedenheit der beiden staatstragenden Parteien. Jahrelang hatten die Führer der „Volksfreunde“ (die dem Himmel vertrauten) und die Obmänner der „Menschenfreunde“ (die der Erde vertrauten) so gut wie vergessen, daß sie unvereinbare Weltanschauungen vertraten. Plötzlich lebte der alte Zwist wieder auf. Wer nun die Torheit besaß, in Gesellschaft einiger „Menschenfreunde“ den Himmel zu loben, mußte mit blutigem Kopf abziehen. Nicht besser erging es einem Bewunderer der Erde im Kreis der „Volksfreunde“. Obwohl die Herren seit langem nicht mehr ihre Wehrhaftigkeit geübt hatten, reizten sie frevelhafte Worte („Die Erde ist unser aller Mutter“ oder „Die Erde ist unser einziges Gut“) so sehr, daß sie kaum zu halten waren, nach biblischem Muster Steine aus dem Straßenpflaster zu reißen und auf den vorlauten Ketzer zu schleudern.

Eine verfahrene Situation, ausgelöst durch die dumme Prophezeihung einer stadtauf, stadtab gut akkreditierten Sibylle namens Josephina. Obwohl von niederem sozialem Stand (die Uberlieferung will wissen: Briefmarkenver-käuferin im Postamt 74 der inneren Stadt), war sie doch verschiedentlich von undefinierbaren Mächten düsterer Geschichte gewürdigt worden. Sie hatte schon einige Mißernten und Viehseuchen, eine Grippewelle und mehrere Kinderlähmungsepidemien vorausgesagt... da fühlte sie sich eines hitzigen Sommertags von einem Schüttelfrost ergriffen, gerade als sie dabei war, Marken zu verkaufen, auf denen die Stadt We abgebildet war. Sogleich begriff sie das Symptom und zischte dem Herrn, der noch geduldig auf seine Marken wartete, „Weltuntergang!“ ins Gesicht. Bestürzt wandte sich der Herr an die anderen Kunden: „Weltuntergang?“

„Ich habe es gefühlt“, jammerte eine dicke Greisin. Gleich hatten es alle gefühlt. Der Ruf pflanzte sich fort, in den Geschäften, in den Markthallen, in den Bars, und als jeder ihn vernommen und weitergegeben hatte, erstarrte die Stadt We im Tal der fruchttragenden Berge und hielt ihren staubigen, stickigen, gasigen Atem an.

Glücklicherweise war das Parlament intakt. In den Debatten stand unnachsichtig Meinung gegen Meinung. Die „Volksfreunde“ argumentierten etwas umständlich: „Wenn vom unerforschlichen Willen des Höchsten der Weltuntergang beschlossen ist, bleibt uns Menschen nur übrig, in Demut die Erde zu verlassen, das heißt, in den Himmel aufzufahren. Es geschehe, was geschehen muß, denn es geschieht zu unserem Heil.“

Weiter kam der „Volksfreund“ nicht. Er wurde von einem „Menschenfreund“ vom Pult gestoßen. „Wir sind gewarnt und können Maßnahmen ergreifen.. Ich verlange den Bau einer unterirdischen Stadt, difc kein Meteor, kein Beben und keine Bombe vernichten kann!“

Auf der Seite der „Volksfreunde“ kam Gelächter auf, um sofort zu ersterben. Denn plötzlich hörten die Parlamentarier eine Antwort, die ihnen nicht lieb war, ein haarsträubendes Geräusch. Es klang, als würden Felswände aneinander gerieben. Eine Sekunde lang wurde das Gebäude gerüttelt. Dem Redner fiel das Wasserglas, das er zum Mund führen wollte, aus der Hand. Weiß im Gesicht drängten die Parlamentarier ins Freie und riefen ihren Anhängern zu, um alles in der verlorenen Welt jetzt nicht auf Prinzipien, sondern auf Sicherheit bedacht zu sein.

Die Panik hatte den Plan der „Menschenfreunde“ begünstigt. Gleichzeitig an hundert Stellen der Stadt We begannen Kommandos von je tausend Mann die Erde aufzubrechen. Sie verwendeten dazu altertümliche Bagger und Schürfmaschinen, die uns heute lächerlich vorkommen würden. Freilich erzielten sie mit diesen untauglichen Geräten oft erstaunliche Leistungen.

Das Arbeitskommando 27 unter seinem in die Geschichte eingegangenen Antreiber Maximilian erreichte als erstes eine Tiefe von fünf Metern, als die Männer auf ein schwarzes, rohrartiges Gebilde stießen, das sich kühl anfühlte. Es besaß einen Durchmesser von zwei Metern, verdickte sich aber in regelmäßigen Abständen und trieb dort ringförmige Wülste heraus. Es wurde bemerkt, daß sich das rätselhafte Fundstück an diesen gequollenen Stellen seitlich in die Erde verzweigte. Es streckte diese schwarzen, kalt-glatten Arme starr von sich und sah unheimlich einer abgestorbenen Wurzel ähnlich. Fast zur gleichen Zeit wurde dem Antreiber Maximilian mitgeteilt, daß auch die Kommandos 3, 29, 44 und 68, die an weit entfernten Punkten der Stadt arbeiteten, auf ein monströses Ding gestoßen seien, das wie ein Rohr aussah, aber offensichtlich keines war. Nur der Bericht der Station 68 brachte eine neue Einzelheit: dort hatten die Männer versucht, die Oberfläche der „Wurzel“, wie auch sie ihren Fund nannten, zu reinigen. Dabei hatten sich mit dem Erdschmutz einige dünne Schichten des unbekannten schwarzen Materials gelöst und sogleich war tropfenweise eine dunkle, erdölfarbene Flüssigkeit hervorgesickert.

Maximilian unterdrückte sein Unbehagen (er hatte sich ein hinderliches Quantum Phantasie bewahrt) und gab die gesammelten Lageberichte an die zentrale Baudirektion weiter. Nach mehreren aufgeregten Rückfragen wurde eine Probe des Fundstückes zur speziellen Untersuchung angefordert.

Nun hatten die Chemiker alle Hände voll zu tun. An den Baustellen der Stadt We aber ruhte die Arbeit. Die Männer saßen auf ihrer „Wurzel“, rauchten, plauderten, aßen, starrten farblose Löcher in den sommerblauen Himmel, der wie versteinerte Bewegung über ihnen stand. Tausende kamen und kamen täglich ängstlicher, sie zwängten sich durch die Straßensperren, tasteten sich durch die Irrgärten der gelben Gerätewagen und rauchspuckenden Lagerhütten, in denen die Arbeiter ihre Kleider wechselten, über weiche Erdhügel, Schotterhalden und Haufen zur Seite geräumter, verbogener Schienen kamen sie, die glücklichen und reichen Bürger der Stadt We, und blickten scheu flüsternd in den Schacht, in dem die „Wurzel“ lag und dunkelölig in der Sonne schimmerte, als öffneten und schlössen sich in ihrer Haut eine Unzahl kleiner, boshafter Augen.

Es bedurfte keiner besonderen Bildung, um zu begreifen, daß hier keineswegs eine archäologische Rarität ans Licht gefördert worden war. Ob gefährlich oder nicht — es war schon aufregend genug, sich vorzustellen, daß die Stadt We seit ihrer Gründung ahnungslos auf unterminiertem Boden lebte, ahnungslos handelte, sich vergnügte und vermehrte, während in der Erde, der sie anvertraute, ein Geheimnis schlief.

Tags darauf befand sich die Stadt We im Freudentaumel. Das Ergebnis der chemischen Untersuchung wurde bekannt. Das vorsichüg stilisierte Kommunique enthielt den schlichten Sachverhalt, daß es gelungen sei, das unbekannte Material zu verflüssigen. In dieser Form überträfe es, lauf schneller Schätzung, um ein Vielfaches den Brennwert und die Energiequote der bisher verwendeten, importierten Treibstoffe. „Die Sorge um unsere Sicherheit hat sich gelohnt. Gestern noch bange vor der Zukunft, verfügen wir heute über eine neue, nie dagewesene Quelle des Reichtums. Es ist ein gutes Land, das wir bewohnen. Es lebe die Stadt We!“

Das „gute Land“ wurde noch öfter zitiert: bei einem Presseempfang, bei einem Staatsbankett, das einträchtig „Volks-“ und „Menschenfreunde“ zum sektfröhlichen Symposium vereinigte, dann, vor allem, beim Staatsakt auf dem unbequemen Gebiet des Arbeitskommandos 27. Die Bürger der Stadt We hatten sich als hochgestimmte Masse eingefunden. Fahnen, Spruchbänder, Luftballons, Schwärme ausgesucht kluger Brieftauben, die in ihren rosa Fängen die Botschaft vom Glück der Stadt We in alle Welt trugen. Und ein strahlender Tag, der sich wie ein Inbegriff aller Tage mit weißem Wolkengefieder über dem Tal entfaltete.

Auf der Tribüne heftete der Staatspräsident ein silbernes Ehrenzeichen an die mächtige Antreiberbrust Maximilians. Neben dem hemdärmeligen Muskelturm nahmen sich die graugekleideten Verflüssigungsexperten etwas schwach und nebensächlich aus. Ein Zeichen: dröhnend schrill fraßen sich zwei Sägen in die schwarz blinkende „Wurzel“, die hilflos im offenen Graben den freudetrunkenen Bürgern zu Füßen lag. Hebekräne packten das erbeutete Stück und schwenkten es wie ein Symbol der Nützlichkeit zwischen Erde und Himmel. Da hielt es keinen mehr. Auch die sprödesten Kehlen konnten sich nicht mehr der Hymne verschließen, und keiner achtete darauf, daß bei den Zeilen:

„In Ewigkeit besteh, Gelobte Hauptstadt We!“ am äußersten Ende des Festplatzes laut und immer lauter „Weh!“ geschrien wurde. Bis plötzlich der Staatspräsidentim Schwenken seines Hutes einhielt und wankend sein Gesicht mit den Händen bedeckte. Die Melodie der Hymne ging in einen gemeinsamen, hunderttausendstimmigen Angstschrei über, denn nun sahen alle, daß ein Zucken und Beben durch die „Wurzel“ lief, sie hob sich aus dem Boden, bog sich in der Luft zu einer gewaltigen Schlinge, das Ende schlug in großen Bögen zornig um sich, zertrümmerte die Tribüne und tötete jeden, den ihr Schlag erreichte. Auch bei den anderen der hundert Baustellen wurde die „Wurzel“ lebendig. Selbst dort, wo sie nicht freigeschaufelt worden war, quollen jetzt Knoten und Ringe, ja, ganze Knäuel zuckender Arme aus der Erde. Sprünge liefen vor ihnen her. Meterdickes, schwarzes Gewürm, von einem einzigen aufgeschreckten Willen beherrscht, fegte die Häuser zur Seite, zerdrückte die Tempel, wälzte sich in den Trümmern, pflügte das Tal um. Wie Schlangen einen Körper ersticken, umklammerten sie die sinkenden Paläste der Stadt We und zermalmten sie mit einem letzten Aufwand blindwütigen Schmerzes. Dann zogen sich die Arme lautlos und schlüpfrig tiefer in die Erde zurück, zu neuem, jahrtausendelangem Schlaf.

An diesem Tag starben im Tal der fruchttragenden Berge die Menschen aus. Die Tauben trugen noch die Briefe übers Land, die vom großen Glück der Stadt We berichteten.

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